Die Liebe gewinnt in Cannes

Die gute Nachricht gleich vorab: Gewonnen hat der menschlichste, der zärtlichste Film des Festivals, Michael Hanekes „Liebe“. Eine gute Entscheidung der Jury, war doch zuvor spekuliert worden, ob man Haneke, der vor drei Jahren die Goldene Palme für „Das weiße Band“ erhalten hatte, schon wieder als Sieger ausrufen würde. Damit ist der 1942 in München geborene Haneke erst der dritte Regisseur in der Geschichte des Festivals, der zweimal den Hauptpreis absahnen konnte. Mit „Liebe“ ist ihm ein reifes Alterswerk gelungen, das mit einer Zartheit und Einfühlsamkeit besticht, die man dem eher für verstörende Psychogramme bekannten „Funny Games“-Regisseur nicht unbedingt zugetraut hätte. „Liebe“ ist tatsächlich ein großer Film über die Liebe geworden.

Er spielt fast ausschließlich in der Pariser Wohnung von Anne und Georges, ein altes, seit ewigen Zeiten verheiratetes Paar, dessen gut eingespieltes, aber immer noch aufmerksames Miteinander plötzlich bedroht wird, als Anne durch einen Schlaganfall zum Pflegefall wird. Georges kümmert sich aufopferungsvoll um seine Frau, immer bemüht, der Situation eine gewisse Würde zu erhalten. Bis er an eine Grenze gelangt, die eine Entscheidung erfordert, die Georges mutig trifft. Was zwei Liebende füreinander zu tun bereit sind, zeigen die Schauspielikonen Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant, von denen man jahrelang nichts mehr gesehen hat, in einem überwältigenden Comeback. Bessere Darsteller hätte Haneke nicht finden können. Für ihren vermutlichen letzten großen Filmauftritt hätten beide auch der Schauspielpreis verdient.

Der ging aber, ebenso wie der Drehbuchpreis, an einen anderen Film über das Leben und über das Sterben, wenn auch in einem völlig unterschiedlichen Kontext. Als beste Schauspielerinnen wurden Casmina Stratan und Cristina Flutur in Cristian Mungius Glaubensdrama „Beyond the Hills“ prämiert. Der Rumäne, der 2007 in Cannes mit „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“, der schmerzhaften Geschichte einer illegalen Abtreibung, gewonnen hatte, schickt uns im Rumänen unserer Tage in ein abgelegenes Kloster hinter den Hügeln. Dort suchen zwei junge Frauen, seit ihrer gemeinsamen Kindheit im Waisenhaus aufs engste verbunden, ihren Lebensweg, der scheinbar nicht mehr miteinander möglich ist. Denn die eine hat Gott gefunden, was der anderen zum Verhängnis wird.

Szenefoto: Beyond the hills

Eine aufrüttelnde Geschichte wie aus einer anderen Welt, und trotzdem ganz im hier und jetzt, in stillen, eindringlichen Bildern erzählt. Bester Schauspieler wurde, überaus verdient und nur dadurch geschmälert, dass Trintignant den Preis ebenso verdient hätte, der Däne Mads Mikkelsen in Thomas Vinterbergs hoch gelobtem „The Hunt“. Er spielt einen frisch geschiedenen Kindergärtner, der versucht, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und durch die Falschaussage eines kleinen Mädchens einer sexuellen Verfehlung bezichtigt wird. Wie daraufhin die Jagdsaison auf den Unschuldigen eröffnet wird, schildert Vinterberg, der 1998 in Cannes mit „Das Fest“ Erfolge feierte, höchst eindringlich. Erschreckend, dass man genau nachvollziehen kann, wie die Gesetzmäßigkeiten eines solchen Kesseltreibens funktionieren, wenn in Windeseile Freundeskreis und nachbarschaftlich-christliche Solidarität wegbrechen.

Ein weiterer großer Film des Festivals, der vom Leben und Sterben handelt und dafür mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, ist „Post Tenebras Lux“ des Mexikaners Carlos Reygadas., ebenfalls bereits in Cannes 2007 ausgezeichnet für „Stellet Licht“. Sein autobiografischer Film handelt von einem Mann, der mit seiner Familie aus der Stadt aufs Land zieht, in einen architektonischen Traum, der aber zum realen Alptraum wird, weil er dort mit den Lebensumständen nicht zurecht kommt. Sicher der visuell ungewöhnlichste Film des Festivals, der mit atemberaubend gefilmten Traumsequenzen den Konflikt zwischen Natur und Kultur einfängt, einen orange leuchtenden Teufel nachts durchs Haus streifen und einen Menschen aus Schuldgefühlen buchstäblich seinen Kopf verlieren lässt.

Ein anderer großer Film, vom Leben und dem, was es antreibt, ist „Holy Motors“, Leo Carax’ Rückkehr auf die große Leinwand, der leider bei der Preisvergabe leer ausging. Das Road Movie in einer weißen Stretchlimousine erzählt von einem Mann, Monsieur Oscar, der von Morgengrauen bis nach Mitternacht in Paris unterwegs ist und die verschiedensten Aufgaben ausführt, von Auftrag zu Auftrag eilt, dabei in immer neue Rollen schlüpft. Ein ruheloser Geist, gejagt von seinen früheren Leben. Wo ist sein Zuhause, wann kommt er zur Ruhe? Ein unglaubliches kafkaeskes Kinoerlebnis und Meilenstein im Werk des Regisseurs von „Die Liebenden von Pont-Neuf“. Bei den Kritikern jedenfalls stand „Holy Motors“ ebenso hoch im Kurs wie Hanekes „Liebe“.

Dass die Jury unter Vorsitz von Nanni Moretti sich eher an die eingänglichere Kinokost hielt, zeigt die Vergabe des Preises der Jury an Ken Loachs hübsche Komödie „The Angels’ Share“, ein mildes Sozialmärchen um vier arbeitslose Jungs in Glasgow und ihren Plan, es mit dem Diebstahl von wertvollem Single Malt Whisky zu etwas zu bringen. Auch Loach übrigens, wie die meisten seiner Kollegen im diesjährigen Wettbewerb, ein Cannes-Veteran – er hatte 2006 mit

newslichter Autorin Marga Boehle in Cannes

„The Wind That Shakes the Barley“ die Goldene Palme geholt. Ärgerlich dagegen der Regiepreis für Moretties Landsmann Matteo Garrone und seine seichte Mediensatire „Reality“, mit der er nicht an seine in Cannes 2008 ausgezeichnetes Mafia-Kritik „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ anknüpfen konnte. Einmal abgesehen davon, dass Frauen in diesem Wettbewerbs-Jahrgang völlig fehlten – ein bisschen frisches Blut und vielleicht der eine oder andere Cannes-Neuling hätte an der Croisette vermutlich gut getan.

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