Das perfekte Verbrechen

Feuer&SchneeVon Eduardo Galeano. In London geben die Heizkörper Wärme ab, wenn man sie durch einen Schlitz mit Geldstücken füttert. Arm also ist, wer in einem strengen Winter keine Münzen besitzt, um die Heizung seiner Wohnung in Betrieb zu nehmen. In dieser Lage befanden sich einige Lateinamerikaner, die von den Militärdiktaturen ihrer Länder ins Exil gejagt worden waren. Zitternd vor Kälte saßen sie in ihrer Unterkunft und starrten wie gebannt auf den Heizstrahler, unterwürfig, wie vor einem Toten, wie in einem stummen Gebet befangen. Sie dachten angestrengt nach, wie sie das Britische Imperium überlisten könnten. Mit Münzen aus Blech oder Pappe würde sich zwar der Radiator, nicht aber der Stromkassierer bei seinem nächsten Besuch übertölpeln lassen.

Was tun?, fragten sich die Exilierten. Sie schlotterten wie im Malariafieber, klapperten mit den Zähnen und zerbrachen sich die Köpfe. Da stieß einer von ihnen plötzlich einen wilden Schrei aus, der die Fundamente der westlichen Zivilisation nachhaltig erschütterte. Das war die Geburtsstunde der Münze aus Eis, ersonnen von einem armen, halb erfrorenen Mann aus den Tropen.

Augenblicklich gingen sie zu Werke. Sie machten Wachsformen, deren Hohlräume perfekte Nachbildungen britischer Münzen waren, gossen die Formen mit Wasser aus und stellten sie dann ins Gefrierfach. Die Münzen aus Eis hinterließen keine Spuren, weil sie sich in der Wärme auflösten. Und von Stund an verwandelte sich die Londoner Wohnung in einen Strand der Karibik.

zeitsprichtEduardo Hughes Galeano, geboren 1940 in Montevideo/Uruguay, wurde mit 20 Jahren stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift für Kultur und Politik MARCHA in Montevideo. Zwischen 1964 und 1966 war er Direktor von EPOCA, der Zeitschrift der „unabhängigen Linken“ in Uruguay. 1976 übernahm er in Buenos Aires die Chefredaktion der Zeitschrift CRISIS. Ab 1976 lebte Galeano im spanischen Exil. 1985, nach der Beendigung der Militärdiktatur in Uruguay, kehrte er nach Montevideo zurück. Galeano erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der „Casa de las Americas“ und den „American Book Award“ der Universität Washington für die Trilogie „Erinnerungen an das Feuer“. Er ist Ehrendoktor der Universitäten La Paz, Havanna und Neuquén/Argentinien. Zu Eduardo Galeanos wichtigsten Veröffentlichungen in deutscher Sprache gehören „Die offenen Adern Lateinamerikas“, „Die Füße nach oben. Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt“ und „Fast eine Weltgeschichte“ (alle Peter Hammer Verlag).

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