Das geöffnete Fenster

fensterEin von mir sehr geschätzter Mensch ist gestorben – ein Nachbar, der schwer an Krebs erkrankt war. Mein Impuls, nachdem ich von seiner Erkrankung erfahren hatte, war sofort, für ihn Querflöte zu spielen. Doch zunächst wollte er keinen Besuch. Dann war ich unterwegs. Schließlich war er schon so geschwächt, dass Besuch für ihn sehr anstrengend war. Einmal in den zwei Monaten habe ich ihn von meinem Zimmer aus gesehen, als er auf seinem vielleicht letzten Spaziergang, gestützt von seiner Frau und einem Freund, in der Nähe meines Fensters vorbeiging. Von weitem hob er den Kopf und sah mich direkt an. Ich war von seinem strahlenden Augenblick bis ins Mark hinein getroffen – und leider spontan unfähig, in irgendeiner Form grüßend zu reagieren.

Seit über einem Jahr hatten wir gemeinsam im Nachbarschafts-Ensemble Querflöte gespielt. Ihm wie auch mir waren sowohl die Lust und Freude an der Musik als auch ihre therapeutische Wirkung sehr bekannt. Meine Sehnsucht, für ihn Klänge zu spielen, wurde stärker, und immer mehr wuchs in mir das Gefühl, dass es jetzt bald Zeit wäre, bevor es zu spät sei.

Schließlich erfuhr ich, dass er im Sterben liege. Eine Freundin und ich gingen zu seinem Haus, umarmten seine Frau, sahen Enkelkinder auf der Treppe stehen. Die Freundin schenkte eine Engelkerze, und wir verabschiedeten uns wieder, ohne ans Sterbebett zu gehen, wollten wir doch die Familie nicht stören. Kaum war die Tür geschlossen, wurde mein Bedürfnis, für ihn zu spielen, unbändig dringend, und ich lief, holte die Querflöte und ging einmal ums Haus. Wir stellten uns vor sein Fenster, und – als wäre es verabredet gewesen – genau in diesem Moment wurde es von seiner Frau geöffnet. So spielte ich Flötenklänge für ihn und für alle Anwesenden und musste gleichzeitig weinen und schmunzeln, denn sein klarer Geist sagte mir genau, wann es genug sein würde.

Während ich dies schreibe, spüre ich, wie sehr dieser Mensch in mir weiterlebt und wie sein Geist mich dazu inspiriert, mit der Welt bewusst und wahrlich verbunden zu sein. Danke für dieses Geschenk! • Martina Schäfer, Kassel

oyaverbundenheitHintergrund: Die kleine Geschichte ist eine von Oya-Leserinnen und -Lesern, die einem ­E-Mail-Aufruf der Redaktion gefolgt sind, von Momenten der Verbundenheit zu berichten. ­Solche Geschichten sind Kostbarkeiten, die wir viel zu selten miteinander teilen. Mehr in der aktuellen OYA Verbundenheit.

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