Biografische Lebensmuster entschlüsseln Teil 1

IMG_4100Von Brigitte Hieronimus Kann man sein Leben neu in die Hand nehmen? Wer kennt das nicht? Irgendwann stellen sich im Laufe des Lebens Fragen wie diese: Was wäre wohl anders geworden, wenn ich dieses oder jenes gemacht hätte? Statt zu studieren, ein Handwerk erlernt, statt aufs Land zu ziehen, in der Stadt zu bleiben, statt zu heiraten, ein freies ungebundenes Leben zu führen – wo stünde ich dann heute?
Ob der eingeschlagene Weg tatsächlich der Richtige gewesen ist, können wir nicht wirklich wissen, wohl aber, was auf diesem Weg in die Entwicklung gekommen ist und woran wir gereift sind. Wie wir auf unser Leben schauen, mit welcher Haltung wir das Leben beurteilen und welche Erfahrungen wir daraus ableiten, hängt zum großen Teil mit unserer Biografie zusammen. Prägungen durch die Herkunftsfamilie, des sozialen Bezugsrahmens außerhalb der Familie, sowie unsere individuelle Persönlichkeit und unser psychische Erleben, nehmen Einfluss auf das, was sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens entwickelt.

Krisen sind unbeliebt
Läuft das Leben rund, haben wir den Eindruck, das Richtige zu tun und sorgen uns nicht. Wie aber meistern wir das Leben unter schwierigen Bedingungen? Wenn das Leben an uns zerrt oder zu entgleiten scheint? Wenn wir am Sinn des Lebens zweifeln und Ängste uns die Luft zum Atmen nehmen? Genetiker gehen davon aus, dass unsere Erbanlagen daran beteiligt sind, wie wir Krisen meistern. Bindungsforscher führen die Fähigkeit zur Resilienz auf eine als sicher erlebte Bindung und ein daraus resultierendes Selbstwertgefühl zurück. Es gibt Menschen, die entwickeln durch ihre Krisenerfahrungen die hohe Kunst der Lebensrückschau. Sie rechnen damit, dass es im Laufe des Lebens zu Wendungen kommt, auf die man keinen Einfluss nehmen kann.

Krisen sind Bildhauer des Lebens

In manchen Krisen offenbart sich der Sinn unmittelbar, während bei Schicksalswendungen sich der Sinn oft erst Jahre später erschließt. Verlieren wir den Job oder verlässt uns ein Partner, sind wir enttäuscht, gekränkt oder verzweifelt und sehen uns als Opfer der Umstände. Doch bei genauem Nachspüren müssen wir uns möglicherweise der Wahrheit stellen, dass wir im Inneren bereits gekündigt hatten, weil wir weder die Arbeit noch unseren Partner genügend liebten. Werden wir durch eine ernste Krankheit oder einen tragischen Unfall zum Innehalten gezwungen, spüren wir oft intuitiv was sich ändern müsste. Krisen fordern uns zum Wachstum auf, sie formen unser Profil, damit wir erkennbar werden. So wie ein Bildhauer vom Stein alles Überflüssige entfernt, so will das Leben uns durch die Überwindung von Krisen zum Lebenskünstler herausfordern.

Vom Traum (a) des Lebens

In Erinnerungen zu schwelgen und das Beste immer wieder neu aufzulegen, ist ein Genuss: Liebeserklärungen und Treueschwüre, das erste eigene Auto, Traumreisen, berufliche Auszeichnungen und Beförderungen, die Geburt der Kinder, das eigene Heim. Viele Ereignisse hinterlassen unauslöschliche Spuren. Beglückende wie weniger glückliche. Doch niemand schaut gern zurück wenn das Leben hart und entbehrungsreich war. Es ist ein gesunder Mechanismus der Psyche, belastende Ereignisse zunächst auszublenden oder abzuspalten. Doch werden diese Erlebnisse später nicht integriert, entstehen sogenannte Überlebensmuster, die ein authentisches Leben verhindern. In den Generationen vor uns ging es überwiegend um die Sicherung der eigenen Existenz und die Notwendigkeit zu überleben. War es der Krieg mit seinen gewalttätigen Folgen, war es Armut, Hunger und Flucht; in Notzeiten ging es um Extreme wie Kampf und Mut, um Zuversicht und Resignation. So ist es für die eigene Biografie von großer Bedeutung, danach zu forschen, was Eltern und Großeltern erlebt, vermittelt und vorgelebt haben. Wir wissen heute mehr darüber, welche Einflüsse traumatisch unverarbeitete Ereignisse auf die DNA und damit auf die Botenstoffe im Hirnstoffwechsel haben. Traumaforscher weisen darauf hin, dass unbewältigte Traumaerfahrungen bis in die vierte Generation hinein weiter gegeben werden. Glücklicherweise sind genetische Strukturen nicht statisch, sondern verändern sich durch Einflüsse von außen.

Vom Mut zur Veränderung
Positive Erfahrungen sind deshalb wichtiger als genetische Dispositionen. Dazu gehört ein gutes soziales Netz aus Familie und Freunden, das Gemeinschaftsgefühle und Solidarität fördert, auch Wahlfamilien wie Freunde, Liebespartner und Wegbegleiter, die neue Orientierungspunkte bilden, wenn herkömmliche Familienstrukturen nicht tragen. Doch bei aller Unterstützung von außen, braucht es Mut zur Bewältigung und Veränderung. Oft stehen den eigenen Veränderungswünschen innere und äußere Hemmnisse im Weg, die ohne Hilfe nicht aufgelöst werden können. Innere Blockaden können unverrückbare Glaubenssätze und Überlebensmuster einer vergangenen Zeit sein. Äußere Hindernisse kommen oft aus dem nahen Umfeld. Freunde, Partner oder Eltern wünschen sich zwar, dass man sich ändern möge, doch die Auswirkungen der Veränderung können ihnen auch Angst machen, weil man nicht mehr einschätzbar ist.

BindungLiebeKraftSabineHermHerbstwieseDem Schicksal eine neue Gestalt geben
Ist es möglich, unverarbeiteten Ereignissen einen angemessenen Ausdruck zu geben? Die größte Not besteht für viele Menschen darin, über belastende Dinge nicht reden zu dürfen. Sei es die Abtreibung eines Kindes, die Trunksucht des Vaters, die Depression der Mutter oder die Mitschuld am Tod eines Kriegskameraden. Familiengeheimnisse und Tabus gibt es in fast allen Familien. Um das einstige Schweigen zu brechen, ist es möglich mit Hilfe des biografischen Schreibens, traumatische Ereignisse aus einer gesunden Distanz zu betrachten, um sich frei schreiben zu können. Sich schreibend zu befreien, ist die älteste Therapieform die es gibt. Viele Autobiografien dienen der Auseinandersetzung mit dem Leben. Wobei man die Wahl trifft, was man Preis geben mag. Durch diesen begleiteten Verarbeitungsprozess werden innere Kraftquellen frei gelegt.

Die Ich-Erschöpfungs-Falle

Menschen die unter dauerhaften Stimmungsschwankungen, Nervösität und innerer Unruhe leiden, fehlt es an einem angemessenen Ausdruck, sowie am nicht Inne halten können, was auf Dauer zu Müdigkeit und Sinnentleerung führt. Nicht nur unsere Generation, sondern auch die nachfolgende hat darunter zu leiden. Die überbordende Reizüberflutung durch unkontrollierten Medienkonsum und die rasche Erfüllung jeglicher Wünsche, führen dazu, dass heute kaum jemand materielle Dinge entbehren muss, gleichzeitig werden die Menschen immer unzufriedener. Die 50plus Generation kann heute wählen, wie sie leben und wofür sie sich engagieren will. Anders als die Generation unserer Eltern und Großeltern ist sie vital genug, um sich einem psychischen Hausputz und dem Entsorgen ihrer Altlasten zu stellen, damit es nicht zur Verbitterung und Altersverzweiflung kommt, die in vielen Erzählungen der älteren Generation durchschimmert.

Sein Leben rückblickend verstehen fördert die Reflektion
Als Ergänzung zum Biografischen Schreiben fördert sie strukturgebende Methode der Biografiearbeit eine reife und reflektierte Sichtweise auf das Leben mit all seinen Herausforderungen. Das Wissen um die Aufgabenfelder der biografischen Lebensjahrsiebte wird an keiner Schule und Universität gelehrt, deshalb muss sich der Mensch selbst darum bemühen. In der Biografiearbeit werden Lebenskonzepte neu überdacht und untauglich gewordene Lebensmuster verabschiedet, um die Gegenwart und Zukunft bewusst zu gestalten. Krisen und Brüche im Lebensverlauf weisen häufig auf illusionäre Vorstellungen und Erwartungen, auf Unabgeschlossenes und Verborgenes innerhalb der eigenen Lebensgeschichte hin. Meist handelt es sich um Themen, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Aufdeckung dieser Themen führt in die Klarheit und ist nötig, um sich aus den familiären Verstrickungen zu lösen.

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Brigitte Hieronimus

Brigitte

Zur Autorin: Brigitte Hieronimus, Jahrgang 51, Biografieberaterin, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Großmutter von vier Enkelkindern, Inhaberin des Seminarhauses für Biografiearbeit und Coaching. Dozentin für Biografisches Schreiben und Traumaarbeit am Frauenseminar Bodensee/Schweiz. Zusammen mit ihrem Partner führt sie Paarseminare und Paarberatungen durch. In ihrem Seminarhaus bietet sie individuelles Einzelcoaching zur Biografiearbeit und persönliche Biografieberatung an. Weitere Infos unter: www.brigitte-hieronimus.de

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Posted in Lichtübung

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