Aufruf für Umwelthandwerker

fortschrittsgeschichten„Im Bereich der natürlichen Ressourcen wie auch des Klimawandels stehen wir vor einer physischen Krise, die weitgehend von uns Menschen gemacht ist. (…) Wenn wir diese physische Krise überwinden wollen, müssen wir andere Dinge herstellen als bisher und sie auf andere Weise nutzen. (…) Wir werden gute Umwelthandwerker werden müssen“, sagt Richard Sennett im neuen Buch von Marcel Hänggi Fortschrittsgeschichten.

Anhand von zwölf konkreten Beispielen – »Fortschrittsgeschichten« – untersucht er, wie technischer Wandel sich in der Gesellschaft vollzieht; unter welchen Voraussetzungen technische Fortschritte beitragen zu etwas, das aus der Perspektive des Anthropozäns »Fortschritt« heißen könnte. Hier seine kurze Buchvostellung:

Dass die menschliche Zivilisation ihren eigenen Untergang bewirken könnte, ist im frühen 21. Jahrhundert von einem bloß möglichen zu einem wahrscheinlichen Szenario geworden. Techniken haben den Menschen befähigt, die Atmosphäre zu verändern, Böden zu zerstören, Städte platt zu bomben. Trotzdem kann Technikfeindschaft keine Option sein. Denn wir Menschen, deren Zukunft es zu erhalten gilt, sind technische Wesen durch und durch. Der Mensch ist Mensch, seit und indem er Werkzeuge benutzt und herstellt. Es geht darum, zu einem zukunftsfähigen Umgang mit Technik zu finden.

Damit dies gelingt, braucht es eine realistische Wahrnehmung von Technik und technischem Wandel. Eine Wahrnehmung, die in Technik mehr sieht als nur technische Artefakte, in technischem Wandel mehr als eine Aneinanderreihung von »Innovationen«. Dieses Buch will eine solche Wahrnehmung entlang von zwölf »Fortschrittsgeschichten« versuchen.

Inhalt

Fortschritt? Eine Einleitung

Der Fortschrittsbegriff ist diskreditiert. Aber die Menschheit braucht Fortschritt mindestens in dem Sinne, dass sie vom selbstzerstörerischen Pfad abkommt. Wie müsste etwas aussehen, das im Zeitalter des Anthropozäns »Fortschritt« heißen könnte? Was sagt es über unsere Zeit aus, wenn der Bgriff der »Innovation« den des »Fortschritts« verdrängt? Wo liegen die blinden Flecken einer innovationsfixierten Technikwahrnehmung?

Teil I: Dinge

1 Buch

Die Druckerpresse hat das Mittelalter beendet, die »wissenschaftliche Revolution« und eine schriftbasierte Gesellschaft ermöglicht – so geht die gängige Erzählung. Aber hat hier wirklich eine neue Technik weit gehende gesellschaftliche Veränderungen bewirkt – oder war es vielleicht gerade umgekehrt? War Gutenbergs Erfindung tatsächlich das Paradebeispiel einer »revolutionären« Innovation – oder war sie nur ein Schritt unter vielen in einer langen Entwicklung?

2 Dampf

Die Dampfmaschine war zweifellos »wichtig« – aber vielleicht aus anderen Gründen, als man sie allgemein annimmt. Jedenfalls hat gewiss nicht sie die industrielle Revolution ermöglicht. Die Dampfmaschine ist ein »Musterbeispiel jener Technikillusion, die oft den Blick dafür verstellte, dass es nicht auf monströse Mechanismen, sondern auf die Wahrnehmung von Marktchancen und Standortvorteilen, auf Arbeitserfahrung und Organisation ankommt« (Joachim Radkau).

3 Klee

Die gezielte Fruchtfolge mit Klee und anderen Leguminosen brachte jene Ertragssteigerungen der Landwirtschaft mit sich, die man die »Agrarrevolution« nennt. In dieser Geschichte stehen »fortschrittliche« Landwirtschaftssysteme in den Niederlanden und England »rückschrittlichen« im Osten und Süden Europas gegenüber. Doch »Fortschritt« und »Stillstand« gingen Hand in Hand: Nur indem die einen »rückschrittlich« blieben, konnten die anderen »fortschrittlich« sein. Entwicklung ist keine Abfolge von Schritten, die überall immer gleich abläuft.

4 Rad

Man kann das Rad nicht neu erfinden. Wie kam es denn aber, dass ein großer Kulturraum es am Ende der Antike gewissermaßen weg-erfand – und viele Hochkulturen das Rad »nicht kannten«? Ist der Abschied vom Wagentransport Ausdruck der Technikfeindlichkeit einer Kultur – oder hatten Perser und Araber einfach eine bessere Technik gefunden, die ein europäischer Blick nicht als solche zu erkennen vermochte?

5 Schwefeläther

Kaum eine Erfindung möchte man weniger missen als die Anästhesie – wie schrecklich ist nur schon die Vorstellung einer kleinen Operation bei vollem Bewusstsein! Der »Sieg über den Schmerz« gilt als Triumph der Medizin. Tatsächlich schaffte sie ihren Durchbruch eher trotz und nicht dank der Wissenschaft.

6 Überschall

Immer höhere Geschwindigkeiten gelten vielen als Gesetz des Fortschritts. Aber ausgerechnet die gegenüber Technik angeblich so viel »aufgeschlosseneren« USA stoppten ihr Programm zur Entwicklung eines zivilen Überschallflugzeugs, als die Europäer gegen alle Vernunft daran festhielten. Ein Lehrstück über zivilgesellschaftliche Technikkritik und die Arroganz technokratischer Macht.

7 Wäsche

Technikwahrnehmung ist meist genderblind. »Weibliche« Techniken wie das Waschen spielen keine große Rolle. Wenn man nun aber sagt, die Waschmaschine habe »zur Befreiung der Frau von einer ihrer härtesten Fronen, dem Waschen im Zuber, geführt« (Golo Mann): Tritt da eine Tätigkeit aus dem Schatten ins Bewusstsein eines Historikers, oder wird diese »weibliche« Tätigkeit wiederum nur aus der Perspektive einer (»männlichen«) Maschine wahrgenommen?

Teil II: Treiber

8 Alternativen

Die Eisenbahn habe gar nicht, wie immer wieder behauptet, die Erschließung des amerikanischen Westens ermöglicht, ja sie habe sie nicht einmal nennenswert beschleunigt, sagte vor fünfzig Jahren der Ökonom Robert Fogel. Er lenkte den Blick damit auf Wichtiges: dass es auf Täuschung beruht zu meinen, nur die Technik, die sich durchgesetzt hat, habe ermöglicht, was wir als Fortschritt wahrnehmen. Fogel hatte Recht – aber er war zu wenig radikal.

9 Erfahrung

Eine innovationsfixierte Technikwahrnehmung übersieht, wie viel Technik eben gerade nicht auf ständiger Neuerfindung, sondern auf Erfahrung, Übung und Routine beasiert. Zumindest die Agrarwissenschaften und die Architektur beginnen zu entdecken, welche Potenziale in altem Erfahrungswissen stecken.

10 Spiel

Die Entstehung des PC verdankt sich letztlich amerikanischen Computerkids, die einfach spielen wollten: Diese Sichtweise enthält viel Selbststilisierung – aber es nicht ganz falsch zu sagen, dass »menschliche Kultur im Spiel – als Spiel – aufkommt und sich entwickelt« (Johan Huizinga). Ein guter Techniker muss immer auch Spieler, ja Künstler sein. Das galt sogar bei der Entwicklung der Atombombe: »Spielerische« Technik ist noch nicht automatisch menschenfreundlich.

11 Tempo

Wenn immer höhere Geschwindigkeiten Ausdruck des Fortschritts sind, dann ist alles, was bremst, fortschrittsfeindlich. Als Paradebeispiel eines fortschrittsfeindlichen Gesetzes gilt der britische Red Flag Act von 1861, der die Höchstgeschwindigkeit von Motorfahrzeugen auf Schritttempo limitierte. Ein unbefangener Blick aber zeigt: Der Red Flag Act war ein durch und durch vernünftiges Gesetz.

12 Versprechen

Die Biotechnik, namentlich die Genomik, gilt vielen als die meistversprechende Technik unserer Zeit. Aber das Vielversprechen ist selber eine Technik, und die Genomik hat sie auf die Spitze getrieben. Es gibt keine Entwicklung ohne ein gewisses Maß spekulativen Glaubens, doch wenn alle Mechanismen der Skepsis ausgebremst werden, wird dieser Glaube dysfunktional.

Umwelthandwerker werden
Ein utopischer Epilog

Wie sieht die Welt in dreißig Jahren aus? Wie müsste sie aussehen, damit sie zukunftstauglich ist? Wo liegen die Risiken und wo die Chancen gesellschaftlicher und technischer Utopien? Welche Rahmenbedingungen gelten auf dem Weg dazu, zu werden, was der Soziologe Richard Sennett fordert: »gute Umwelthandwerker«?

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