Scheu

Annamartha  / pixelio.de

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Das scheue Reh: Erst hielt unsere Tochter Martha es für einen Hasen, denn zwei lange Ohren lukten aus dem hohen Gras. Dann aber reckte sich das Tier neugierig in die Höhe … und entzog sich umgehend unseren Blicken. Wie schön! Nicht nur das Reh, sondern auch die Scheu; ist doch die Scheu eine Qualität des Daseins, für die wir weitgehend den Sinn verloren haben. Vielleicht, weil es in ihrem Wesen liegt, sich gern den Blicken zu entziehen – noch mehr jedoch vermutlich, weil es in unserer Welt des permanenten sich Sich-Zeigen-Müssens keinen Raum mehr für die Scheu gibt.

Kein Wunder so gesehen, dass Scheu (oder auch Schüchternheit) von unserer Gesellschaft gemeinhin pathologisiert wird. Zwar billigt man ihr zu, sich in gewissen Lebensphasen zaghaft zeigen zu dürfen, doch wenn sie Überhand gewinnt, muss sie, so lehrt der Mainstream, geflissentlich beseitigt werden. Mir scheint, hier sind wir alle auf der falschen Fährte. Und es sagt viel, dass sich so gut wie nirgends jemand zeigt, der sich erkühnte, der Scheu die wohlverdiente Ehre zu erweisen.

Tatsächlich ist die Scheu ein wunderbarer Zustand. Sie hält die Mitte zwischen Nähe und Distanz. Wer scheu ist, wendet sich nicht einfach ab (das wäre Ängstlichkeit). Wer scheu ist, steht in der Beziehung, doch stürzt er sich nicht unbefangen in sie, sondern er hält sich in der Schwebe – bleibt gleichsam im Standby und wartet ab. Die Scheu ist so gesehen Ausdruck der Verbundenheit. Indem sie scheut, ist sie oft mehr beim Anderen, als jeder Leutselige, der ohne Wenn und Aber sich oberflächlich auf Begegnung einlässt. Sie ist auch mehr beim Anderen als jede Coolness, die – um die Scheu zu meiden – gar nicht erst den Anderen an sich ranlässt. Sie ist beim Anderen und sie bleibt bei sich. Darin liegt ihre stille Schönheit.

Die Scheu ist eine Tugend der Verbundenheit. Sie nimmt den Anderen wahr in seiner Andersheit. Sie nimmt ihn ernster als die dumpfe Kumpelei, die allzu oft das echte Miteinander tötet. Wenn uns ein scheuer Mensch begegnet, dann sollten wir die Scheu in seiner Seele achten, anstatt ihn für sozial gestört zu halten. Wir sollten uns ihrer würdig erweisen und das Vertrauen der scheuen Seele zu gewinnen trachten – denn wenn uns dies gelingt, wird aus der Scheu die Treue. Zuletzt sollten wir erwägen, ob nicht auch uns zuweilen ein Hauch von Scheu gut zu Gesichte stünde. Auf dass nicht Schillers Wort auch von uns gelten möge: Verlassen hatte euch die zarte Scheu / der Menschen, eure Wangen, sonst der Sitz / schamhaft errötender Bescheidenheit, / sie glühten nur vom Feuer des Verlangens.

Christoph Quarch

Christoph Quarch

Christoph Quarch: “Für mich ist Philosophie eine Übung des Gemeinsinns. Denn wer philosophiert, gewinnt eine Vogelperspektive, die aus der Enge der täglichen Interessen und Nöte befreit und den Blick für das Ganze öffnet. Und das im Gespräch mit Anderen. Solche befreienden Höhenflüge möchte ich Ihnen bei meinen philosophischen Reisen und Seminaren ermöglichen.”
Mehr zu seinen Büchern, Vorträgen und Reisen auf seiner Website www.christophquarch.de/

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2 Kommentare zu “Scheu
  1. thomram sagt:

    Schöner Artikel, danke.
    Ich, alter Knacker, habe nie über Scheu nachgedacht. Ganz prima, dieser Denkanschubser.

  2. Marvita sagt:

    Ich solle mein scheues Reh stärken, sagte die Seminarleiterin. Später zogen wir eine Karte zum
    Krafttier – ich zog: das Reh. Im Begleittext las ich: Das Reh ist auf dem Weg zum „Großen Geist“ – ein Dämon versperrt ihm den Weg, das Reh aber in seiner Sanftmut hat das Herz des Dämons längst berührt, so daß ihm der Weg nicht mehr versperrt ist.
    So kam das (scheue) Reh zu mir als mein Krafttier.

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