Auf gute Machbarschaft

Foto: papageiensiedlung.de

Foto: papageiensiedlung.de

In der Berliner Papageiensiedlung ist ein lebendiges Biotop der Schenkökonomie entstanden von Ute Scheub. Am Anfang war mein Scheitern. Im Jahr 2007 wollte ich in »­meiner« Onkel-Tom-Siedlung in Berlins südwestlichem Bezirk Zehlendorf eine nachbarschaftliche Tauschökonomie aufbauen. Doch die Bewohner und Nachbarinnen mochten ihr Engagement nicht verrechnen – auch nicht in einer Zeitwährung. Stattdessen entstand so viel anderes und Besseres. Wie gut, dass ich gescheitert bin!

Wir lieben unsere Onkel-Tom-Siedlung. Die von Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Salvisberg Ende der 1920er Jahre in den Grunewald hineingebaute Siedlung ist ein denkmalgeschütztes Kleinod, immer wieder bestaunt von fotografierenden Besuchergruppen aus aller Welt. Der Name der Siedlung und ihrer U-Bahnstation »Onkel Toms Hütte« leitet sich von einem früheren Ausflugslokal ab, dessen Besitzer Tom hieß. Im Volksmund wird sie wegen ihrer bunten Reihenhäuschen auch »Papageiensiedlung« genannt. In den rund 800 Häusern und 1100 Geschoßwohnungen siedelt eine bunte Mischung von Leuten – Akademiker und Künstlerinnen, Gut- und Schlechtsituierte, Senioren und junge Familien. Politisch gesehen, ist die Siedlung eine rot-grüne Enklave im traditionell schwarzen und reichen Zehlendorf.

»Architektur ist die Kunst der Proportion«, verkündet ihr Begründer Bruno Taut (1880–1938) auf seinem Denkmal. Gebäude und Straßenzüge sind bis ins letzte Detail durchdacht; die meist nur fünf Meter breiten Häuser und Gärten sind so angelegt, dass sie Nachbarschaftlichkeit zum Blühen bringen – Kontakte sind fast unvermeidlich. Wir bekommen mit, wie Paare sich finden, streiten und trennen, Menschen geboren werden oder sterben. Manchmal geht es hier zu wie in einer langgezogenen Wohngemeinschaft.

Kein »Bruno« wollte fließen
2007 las ich in »Geo« einen Artikel über die »Seniorengenossenschaft Riedlingen«, in der junge Leute Alte pflegen und sich diese Dienstleistungen in einer »Zeitbank« für ihr eigenes Alter anrechnen lassen. Wäre das nicht auch etwas für die Papageiensiedlung? Aufgeregt stürmte ich mit dieser Idee zu unserem kleinen Damenchor. Wir nannten uns damals »Die röhrenden Hirschkühe« und leiteten gerne freitagabends das Wochenende singend ein.
Angeregt von der Zeitbank-Idee, luden wir andere Nachbarn und Bewohnerinnen ein und diskutierten. Regelmäßige Treffen folgten, eine Mailingliste mit inzwischen fast 500 Haushalten entstand, ebenso die Website www.papageiensiedlung.de mitsamt digitalem Tauschring. Wer Dienstleistungen anbot, dem oder der sollte ein »Bruno« pro Stunde angerechnet werden – eine virtuelle Zeitwährung mit dem Namen unseres Lieblingsarchitekten.

Doch in Wirklichkeit floss nie ein einziger »Bruno«. Die Menschen dieser Nachbarschaft hatten schlicht keine Lust, die selbstverständliche gegenseitige Hilfe per Ausfüllen bürokratischer Zettelchen zu verrechnen. Stattdessen ergrünte im Lauf der Zeit ein Biotop der Schenk­ökonomie mit vielen Blüten, Trieben und Zweiglein. In ihrem Zentrum: eine Nachbarschaftsgalerie in der denkmalgeschützten U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte – aufrechterhalten vor allem von der verrenteten Generation 60plus, mit mehr Zeit ausgestattet als die jungen Eltern, die hier ebenfalls gerne wohnen, weil ihre Kinder ungefährdet auf der Straße spielen können. Dort finden Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Theaterstücke, Energieberatung, politische Veranstaltungen, Seniorenberatung, Vorträge zu Architektur und Denkmalschutz statt – oder Abende, an denen Personen aus der Nachbarschaft ihre Lebensgeschichte erzählen: etwa eine Sängerin, eine Widerstandskämpferin oder ein international tätiger Richter. Um die Räume anmieten zu können, mussten wir im Jahr 2010 freilich erst zur Rechtsperson werden und den Verein »Papageiensiedlung e. V.« gründen – in Deutschland ist gemeinnütziges Handeln ohne bürokratische Vereinsmeierei schier unmöglich.

In der Galerie steht auch ein Regal mit Büchern zum Tauschen. Wer einen Schmöker ausgelesen hat, stellt ihn hinein und nimmt sich einen neuen. Auch der Tauschring gründete sich dort neu – diesmal nicht-virtuell und mit regelmäßigen Treffen, auf denen sich Nachbarinnen mit Haushaltsdingen, Vertrauen und Zuhören gegenseitig beschenkten. Mal stand gemeinsames Filmegucken auf dem Programm, mal war es der Austausch von Spielen oder von Reise­erfahrungen, mal improvisiertes Playback-Theater. Irgendwann ­besuchten uns zwei erfahrene Mitglieder des Tauschrings Kreuzberg. »Was, ihr verrechnet nichts mehr?«, fragten sie. »Ihr seid Avantgarde. Schenkökonomie ist ganz weit vorn.«

Kunst durch Schenkkultur
Auch die Galerie, inzwischen umbenannt in »Bruno Taut ­Laden«, funktioniert via Schenkwirtschaft – geschenkte Zeit derjenigen, die Gäste und Besuchergruppen betreuen. Zu sehen sind nicht nur Bilder, sondern auch historische Materialien zur Siedlung, wie Grundrisse, alte Fotos und Archivalien zu Bruno Taut. Für Thies Boye – Taut-Kenner und Architekt im Ruhestand – ist es »das Schönste«, wenn jemand kommt, der neue Details aus Bruno Tauts Leben beisteuert. Volker Heinrich kümmert sich liebevoll um alle Exponate, weil er die drumrum entstandene Gemeinschaft so »toll« findet. Galeriebetreuerin Petra Sommer freut sich besonders über skurrile und lustige Begebenheiten – wie den Besuch einer Dame mit Mops und rosa Schleife: »Die trägt er, weil er heute Geburtstag hat.« Und ihre Freundin Annette Jahnke opfert ihre Freizeit für ­Galeriedienste, weil »ich hier menschlich so viel Schönes erlebe«.

Annette Jahnke wohnt noch nicht mal in der Siedlung, sondern nimmt umständliche Anfahrten in Kauf, um ihre Gratisdienste zu tun. In die Galerie geriet sie per Zufall – ihre Tochter stellte dort 2014 an der »Wand der jungen Kunst« ihre Bilder aus. Die Sozialpädagogin im Vorruhestand fühlte sich damals »völlig entwurzelt«, weil das Haus, in dem sie jahrelang lebte, nach einem Rechtsstreit entmietet worden war. Ihr gefällt, dass die Ladengäste »aus höchst unterschiedlichen Schichten kommen – von ganz einfach bis blitzgescheit«. Das kulturelle Angebot »begeistert« sie: »Konzerte in so einem kleinen Raum sind weit schöner als etwa in der Philharmonie. Man sitzt ja schon fast auf den Musikern drauf.«

Mittlerweile gehört auch »Zehlenwandel«, eine Transition-Town-Initiative, zum Biotop. Die junge Ärztin Julia Käsmaier trommelte eine Gruppe zusammen, die einen Gemeinschaftsgarten errichten wollte. Der Anfang war bizarr: Sie suchten sich dafür einen kleinen Park außerhalb der Siedlung aus – nicht wissend, dass dort nur Steuerberater, Anwälte und Besserverdienende wohnen, die das Wort »Gemeinschaft« offenbar in ihrem Leben noch nie gehört hatten. »Die wollen uns unseren Platz wegnehmen und die Mauer neu bauen!«, behauptete die flugs gegründete Gegen-Bürgerinitiative. Zehlenwandel zog sich zurück und errichtete seine Terra-Preta-Beete andernorts – diesmal unterstützt von anwohnenden Familien, die die sommerlichen Picknicks neben den Gemüsebeeten zu schätzen wissen.

Durch all das habe sich die Siedlung sehr positiv entwickelt, sagen viele. Neue Freundschaften entstanden, aus Nachbarschaft wurde Machbarschaft. Unterstützend kamen Aktivitäten des Projekts »Lebenskultur im Kiez« hinzu, das mit dem Verein kooperiert. Der Leerstand in der Ladenstraße im U-Bahnhof verschwand, kleine Geschäfte eröffneten, ein Wochenmarkt auf dem umgestalteten U-Bahn-Vorplatz entwickelte sich zu einem beliebten Treffpunkt von Leuten, die dort einen Feierabendwein schlürfen und der »U-Musik« wechselnder Bands zuhören.

Neuankömmlinge

Dann kamen auch noch unsere Flüchtlinge. »Unsere«, so sagen hier viele, denn die Kontakte sind eng. Ungefähr 200, vor allem aus Syrien und Afghanistan, wohnen in der nahegelegenen Turnhalle eines Sportvereins. Einmal pro Woche organisieren der Verein und die Kirchengemeinde gemeinsam ein Begegnungscafé für Geflüchtete und Einheimische, und jeden Vormittag gibt es Sprach- und Alphabetisierungsunterricht im »Bruno Taut ­Laden« – organisiert von 17 Freiwilligen, mehrheitlich Lehrerinnen im Ruhestand. Ihre Motive? »Ich wollte etwas Sinnvolleres machen als Klamotten in der Kleiderkammer sortieren.« »Wir dürfen der AfD nicht das Feld überlassen.« »Ich war selbst Flüchtling, aus der DDR.« »Sie sind doch schon da – damit müssen wir so gut wie möglich umgehen.« »Die Flüchtlingsmassen wirkten auf mich anfangs bedrohlich. Mir war es deshalb wichtig, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.« »Das Miteinander macht einfach Spaß.« Ute Boye, eine der rührigsten Ehrenamtlichen des Vereins, erzählt begeistert, wie ein Geflüchteter sie neulich auf der Straße in schönstem Deutsch ansprach: »Wie geht es Ihnen?« Oder wie eine Abordnung der Flüchtlinge »ihrer« Heimleiterin am internationalen Frauentag einen Blumenstrauß überreichte.

Die Schenkökonomie – sie zieht immer weitere Kreise, nun ist sie zu den Neuankömmlingen weitergewandert. Auch in der Flüchtlingsunterkunft haben Freiwillige Alphabetisierungskurse organisiert. Viele Frauen halten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stift in der Hand. Sie sind hochmotiviert, sie wollen lernen – und sie beginnen von innen zu leuchten, wenn sie es geschafft haben, zum ersten Mal ihren Namen zu schreiben. Das klingt alles idyllischer, als es ist. Die Schriftstellerin Nicki Pawlow, eine der freiwilligen Helferinnen, bekennt in einem Artikel für den »Tagesspiegel« freimütig, dass nach den Ereignissen der Kölner Sylvesternacht in ihr ein »dunkles, diffuses Bedrohtheitsgefühl« gewuchert sei, das »ihr Denken betoniert« habe. Doch »dann schaltete ich die Glotze aus und las die Schlagzeilen nicht mehr. Ich wollte mir selbst ein Bild machen. Ich habe mich auf die Flüchtlinge zubewegt. Kam mit ihnen in Berührung – und wurde berührt. Auf die Schritte, die meine Beine machten, folgten Schritte im Kopf. Die Erkenntnis nämlich, dass es keine akute dunkle Bedrohung gibt.« Es seien »ganz normale Menschen wie du und ich – sympathische, unsympathische, laute, schüchterne, selbstbewusste, ängstliche, nervige, interessante.«

Faszinierende Arbeitsteilung
Das Beglückendste in diesem ganzen Biotop, befindet Ute Rother-Kraft vom Verein Papageiensiedlung, sei die »ebenso rätselhafte wie faszinierende Arbeitsteilung« aller Beteiligten: »Jeder und jede tut das, wofür er oder sie sich am besten geeignet fühlt, ohne dass jemand Anweisungen erteilt. Wenn Menschen den Raum dafür haben, entwickeln sie Eigeninitiative und Eigenverantwortung.« Die einen machen Galeriedienste, die anderen organisieren Veranstaltungen, die dritten betreuen den Tauschring, die vierten den Büchertausch, die fünften Flüchtlinge, die sechsten den Gemeinschaftsgarten, die siebten Siedlungsfeste – zwar nicht alles ohne gelegentliche Reibereien, aber ohne jeden nennenswerten Konflikt. Ohne größere Absprachen, ganz nach dem Lustprinzip.

Das zeigte sich besonders beeindruckend, als sich der Verein Ende 2014 aus verschiedenen Gründen gezwungen sah, seine alten Räume aufzugeben und einen anderen, völlig heruntergekommenen Laden zu renovieren. Ein Imbiss hatte dort eine zerstörte Infrastruktur sowie eine Fett- und Stinkeschicht auf allen Wänden hinterlassen. Ein Aufruf an die Nachbarschaft genügte, und es kamen so viele, dass »Bauleiter« Hans-Jürgen Kraft alle Hände voll zu tun hatte, die Freiwilligen zu koordinieren. Einige legten Leitungen, andere bauten Fenster ein oder strichen Wände. Nach drei Monaten gemeinschaftlicher Bauarbeit war der »Bruno Taut Laden« fertig – zu denkbar geringen Kosten, die die Nachbarschaft ebenfalls gemeinsam getragen hatte.

»Darin zeigte sich ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft«, sagt Ute Rother-Kraft. Auch bei ihr sei mehr Vertrauen entstanden, dass man in Zeiten der Krise vieles gemeinsam bewältigen könne: »Klar kommen wir manchmal an Grenzen. Aber wir brauchen uns darüber keine Sorgen zu machen! Das, was in diesem Biotop weiterbestehen soll, wird auch weiterbestehen – das ist meine Erfahrung. Deshalb sage ich immer: ›Leute, wenn es euch zuviel wird, dann tut einfach weniger!‹« Menschen würden nur dann dauerhaft aktiv, »wenn ihre Herzen angesprochen werden, wenn sie sich innerlich mit etwas verbinden können – mit den Flüchtlingen oder auch mit der Kunst. Und sie praktizieren Schenkökonomie, weil das eine Welt ist, in der sie leben möchten.«

Ja, wir leben in der Papageiensiedlung bereits das, wovon andere nur träumen können: Wir verbinden dörflichen Gemeinschaftssinn mit urbaner Freiheit. Wie gut, dass ich am Anfang so gründlich gescheitert bin!

machbarschaftZur Autorin: Ute Scheub (60) ist promovierte Politikwissenschaftlerin, gehört zu den Gründerinnen der taz und lebt als Publizistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Geschichten des Gelingens und viele Bücher.

Der Artikel ist zuerst erschienen in der oya-Ausgabe 38 mit dem Schwerpunkthema Nachbarschaft. Hier Probeheft bestellen.

Den erfreulichen Ort besuchen: www.papageiensiedlung.de

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2 Kommentare zu “Auf gute Machbarschaft
  1. Detlef Zachau sagt:

    Sehr geehrte Damen und Herren – bin uralt Zehlendorfer, Riemeisterstrasse, ehemaliger Mieter in der Ladenstraße und frage ob ich noch am 4.5. in der Ladenstraße selbst gemalte Bilder ausstellen kann – bin heute Kunst/Bildermaler. Bei jeder Kunstausstellung der EMA war ich dabei. Würde mich über eine Antwort sehr freuen.

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