Windstille vor der Pubertät: Das zweite Lebensjahrsiebt

Foto: newslichter

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Auszüge aus “Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen“ von Brigitte Hieronimus zweiter Teil 7-14 Jahre. Welches Bild wir heute von unseren Kindheitsnachmittagen haben, hängt mit unserer damaligen Gefühlswelt zusammen. Wir erinnern uns an das, was für uns emotional bedeutsam war. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Schon lange vor der Pubertät bemerken wir erste Widersprüche in elterlichen Verhaltensweisen, können sie aber noch nicht in übergeordnete Zusammenhänge bringen. Es ist verwirrend, wenn sich die Mutter zu Hause über eine übertrieben ehrgeizige Lehrerin beklagt, aber freundlich lächelnd schweigt, wenn diese auf dem Elternsprechtag über die Nachlässigkeit des Kindes meckert. Es verunsichert, wenn Eltern auf bestimmte Politiker schimpfen, aber immer wieder genau die wählen, mit denen sie nicht einverstanden sind.

Kinder widersetzen sich, wenn sie keine stabile Richtung erkennen. Die Taktiken sind bei allen Kindern gleich: Trödeln, Nörgeln, Jammern, Schreien, Toben … Damit gewinnen sie emotionale Macht über ihre Eltern, solange diese nicht wagen, ihre natürliche Autorität einzusetzen, die dem Kind Orientierung bieten würde. Kinderpsychiater stellen in jüngster Zeit fest, dass verwirrende Strukturen entstehen, wenn Kinder wie „Partner“ angesprochen werden und Eltern „beste Freunde“ und „Kumpel“ ihrer Kinder sein wollen. Im Grunde sind es aber die Eltern, Erzieher und Lehrer, die beunruhigt und verunsichert auf die wechselhaften Stimmungen und natürliche Lebendigkeit der Kinder reagieren. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass Schulkinder mit beruhigenden oder leistungssteigernden Medikamenten versorgt werden, damit die Mütter dieser Kinder beruhigt sind. Ein Blick in die Biografie dieser verunsicherten „Kumpeleltern“, auf ihre Kindheits- und Schulerfahrungen, bringt oft unbewältigte Ängste vor bestimmten Autoritätspersonen und eigenem Lernversagen zum Vorschein. Eltern, Lehrer und Lehrherren, die sich damals ausschließlich fehlerorientiert verhielten und Versagen hart bestraften, hinterlassen nun mal tiefe Spuren im Gedächtnis. Vor allem die in den 50er Jahren Geborenen hatten es mit übergriffigen, bisweilen sogar äußerst brutalen und nur selten mit schützenden Personen zu tun. Methoden wie völlig sinnlose Strafarbeiten, Stockschläge und Demütigungen vor der versammelten Klasse, verhinderten, dass sich ein gesundes, angstfreies Lernverhalten entwickeln konnte.

Schulspuren
Man erinnert sich noch in späten Jahren an Ungerechtigkeit und Beschämung, an Ermutigung und Anerkennung in der Schule. Lob und Tadel im Übermaß birgt die Gefahr, abhängig zu werden von dem, was andere erwarten und einfordern. Zu viel Lob und Tadel verleiten dazu, sich immer mehr anzustrengen und nicht mehr zu fühlen, wann es genug ist. Die Spätfolgen zeigen sich meist in den Jahren zwischen 40 und 50, in denen es auffallend oft zu Erschöpfungssymptomen, Burnout und Depression kommt …

Je jünger Kinder sind, desto mehr sind sie bemüht, den Erwartungen der Lehrer, vor allem der Grundschullehrer zu entsprechen, um sie nicht zu enttäuschen. Es lohnt sich, Kinder der 1. Klasse zu beobachten, die zunächst noch freudig vom Unterricht nach Hause stürmen und sofort ihre Hausaufgaben erledigen wollen. Doch schon nach den ersten Sommerferien ändert sich das Bild. Bepackt mit immer schwerer werdenden Schultaschen und Turnbeuteln, mühen sie sich aus überquellenden Schulbussen, werden von gehetzten Müttern mit dem Auto abgeholt oder radeln mit ihren wuchtigen Schulranzen und bunten Helmen, unter denen ihre angestrengten Gesichter hervorlugen, nach Hause, vorausgesetzt, sie haben ihre Fahrradprüfung bestanden. Unter welchen Bedingungen Kinder lernen zu lernen, bleibt ein Leben lang neuronal gebahnt. Ist es eine Lehrerin, die sie mit einem Lächeln und Warmherzigkeit an schwierige Aufgaben heranführt, die geduldig warten kann, bis jedes Kind verstanden hat, worum es geht, oder eine Lehrkraft, die keine Unterschiede macht und von allen die gleiche Leistungsbereitschaft fordert, oder ein Lehrer, der Mädchen bevorzugt und Jungs mit blöden Sprüchen provoziert? Je nachdem wie Autoritätspersonen mit Kindern umgehen, werden Wissbegierde und Neugier in fruchtbare Bahnen gelenkt oder der Widerwille, etwas Neues zu lernen, genährt. Über Gelingen und Misslingen entscheiden manchmal vermeintliche Kleinigkeiten. Es ist leicht, Kinder zu beschämen. Schon ein unbedachtes Wort kann eine kindliche Seele verwunden und ein Leben lang schwären.

In der biografischen Arbeit wird sichtbar, dass sich im späteren Berufsleben zu wiederholen scheint, worunter man in der Schule gelitten hat. Da gleicht der Chef dem ehemaligen verhassten Lehrer, die Vorgesetzte der strengen Nonne auf der Mädchenschule, die Kollegin der arroganten Streberin aus der Grundschule. Und genau deshalb leiden manche Eltern ganz persönlich, wenn ihr Kind vermeintlich ungerecht behandelt oder gedemütigt wird. Denn nicht nur die Generation unserer Großeltern und Eltern, sondern auch noch die in den 50er Jahren Geborenen litten unter Prügelstrafen durch Lehrkräfte. Schlimmer noch als die körperliche Züchtigung trifft Kinder aber ein Vertrauensmissbrauch. Kam das Kind aufgelöst nach Hause und erzählte, dass der Lehrer ihm wegen eines Tintenflecks im Heft zehn Hiebe mit dem Lineal auf die Fingerspitzen gegeben habe, setzte es zu Hause gleich noch ein paar Ohrfeigen vom Vater hinterher, mit den Worten: „Dann hast du es wohl verdient!“ Damit wird der kostbare Selbstwert eines Kindes schwer missachtet. Waren Übergriffe an der Tagesordnung reagiert man bis ins hohe Alter überempfindlich auf Beschämung, Beschuldigung und Kritik. Auch Perfektionismus, der sich bis zur Zwanghaftigkeit steigern kann, resultiert meist aus einem kindlichen Gefühl des Versagens und sabotiert in den späten Jahren jedes zufriedene Lebensgefühl.

Heiße Zeiten für coole Kids?

Zwischen 12 und 15 Jahren erwachen Energien, die sich als unkontrollierte Gefühlsäußerungen und Stimmungsschwankungen, Aggression, Verschlossenheit oder Rückzug Bahn brechen, je nach Tagesform. Mitten in der Pubertät angekommen, verlassen die jungen Menschen kaum noch ihr Zimmer, die schmutzigen Klamotten stapeln sich, das Bad ist ständig besetzt und natürlich abgeschlossen, das Smartphone stets griffbereit. Diese Zeit ist geprägt von starken Ambivalenzen. Einerseits hoffen heranwachsende Kinder weiterhin auf elterliches Vertrauen, andererseits haben sie den starken Drang, sich gegenüber elterlichen Erwartungen und Bevormundungen durchzusetzen. Freunde und Peergroups werden immer wichtiger. Alles, was diese cool oder megageil finden, bringt die meisten Eltern auf die Palme. Waren es in den Siebzigern Minirock und Pilzkopf, die Songs der Stones und das „Gitarrengejaule“ von Jimmy Hendrix, so sind es heute Tattoos, Piercing oder obszöner Gangsterrap.

Eltern müssen aber auch gar nicht verstehen, warum pausenlos Selfies auf Foto- Plattformen hochgeladen werden. Schließlich wird ja auch jede Befindlichkeit auf Facebook gepostet … Diese virtuelle Form von Beziehung ist gleichermaßen nah und fern, bleibt unverbindlich und hat selten Bestand; denn im realen Leben sind viele dieser Kids kaum noch in der Lage auszudrücken, was sie wirklich fühlen. Hirnforscher weisen bereits darauf hin, dass der übermäßige und vor allem zu frühe Gebrauch digitaler Medien, die sozialen und empathischen Fähigkeiten allmählich verkümmern lassen. Herkunft und Bildungsgrad der Kinder spielen dabei keine Rolle. Die ehrgeizigen und zielorientierten Secondas sind genauso infiziert wie Rich Kids und Hipster. Was aber unterscheidet die modernen Kids von uns während der Pubertät? Welche Grenzen haben wir ausgereizt und welche nicht gewagt zu überschreiten?

Zu den Entwicklungsaufgaben zwischen 14 und 21 Jahren gehört es nun mal, Grenzen zu erfahren, diese auszuloten und auszutesten. Eine Aufgabe, die uns zwischen 40 und 50 Jahren übrigens wiederbegegnen wird.

Biografische Fragen Das zweite Jahrsiebt (7-14 Jahre)
Welche Normen – Werte – Gewohnheiten haben auf mich gewirkt?
Welche davon sind heute meine eigenen wertgebenden Institutionen? Welche habe ich übernommen?
Wie habe ich Schule und Lehrer erlebt?
Für wen habe ich mich besonders angestrengt?
Wie gehe ich heute mit Autoritätspersonen um?
Wie gehe ich heute mit Erfolg und Misserfolg um?

Hintergrund: Das ist der zweite Teil einer Serie bei den newslichter, in der monatlich immer ein Lebensjahrsiebt vorgestellt wird. Dank an den Kamphausen Verlag für die Freigabe der Auszüge aus dem Buch Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen. Eine ausführliche Besprechung des Buches hier.

brigitteZur Person: Brigitte Hieronimus arbeitet als erfahrene Paar-und Biografieberaterin, Trainerin, Referentin zum Thema Wechseljahre und Dozentin für biografisches Schreiben. Der Autorin gelingt es auf lebendige Weise, den Lesern eine mutmachende neue Sichtweise zu vermitteln. Daher ist sie immer auch gefragte Interviewpartnerin in TV, Hörfunk und Presse. Mehr auf ihrer Webseite www.brigitte-hieronimus.de

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