Die neuen Helden

breakthroughDie Welle des Lebens reiten heißt: in einer Logik reagieren, die es darauf anlegt, sich zu vereinen und trotzdem in keiner Spur festzufahren. Wilde Herzen improvisieren ständig. Die Wirkung ihres Handelns kommt aus der fortlaufenden Transformation und nicht aus einem einmaligen dramatischen Akt. Aus dem Flow heraus entstehend, indem Intuition und Intellekt spielerisch zusammenarbeiten, agieren sie wesentlich schneller – noch bevor Probleme und Konflikte überhaupt zum Ausbruch kommen können. Genau so charakterisierte der zeitgenössische Philosoph François Jullien die chinesische Vorstellung von Wirksamheit. Daher sind sie die neuen, oft unsichtbaren Helden.

Wie die chinesischen Weisen haben sie das Problem gelöst, noch bevor es auftaucht. Sie siegen, bevor es zum Kampf kommt. Sie sind Künstler darin, Leiden zu vermeiden, im dem Sinne, dass sie es gar nicht erst entstehen lassen. Die neuen Helden sind Meister darin, glückliche Umstände zu schmieden. Sie haben einen Riecher für das Atmosphärische, weil sie eine Situation nicht als äußeres Drumherum empfinden, sondern als etwas, das lebt und reagiert und an dem sie unmittelbar beteiligt sind. Daher handeln sie authentischer, ehrlicher, weicher – und früher. Die Situation wird nicht blockiert und die Kräfte bleiben gebündelt. „Frühzeitiges Handeln hinterlässt keine Wagenspur“, heißt es bei Laotse. Für die Liebenden ist die Welt kein Gegenstand der Macht und des Gewinnens, sie empfinden sich als Mitwirkende an ihrem Werden.

Die neuen Helden beanspruchen nicht schon zu Lebzeiten ein Denkmal für sich; sie machen auch keinen Kult um sich. Es sind nicht die Konservativen, die die Anbetung der Asche fordern. Und auch nicht die Kriegshelden, die Reichen und Mächtigen, die Päpste und Staatsmänner. Es sind auch nicht unbedingt die Heiligen und Yogis, nicht die Medienberühmtheiten oder die Stars der Glamourwelt. Die neuen Helden sind wilde Herzen, Menschen mit Rückgrat, unbestechlich und mutig, vorausblickend und voller Commitment – unkonventionell und leidenschaftlich. Menschen, die begeistern, weil sie den Geist zu entfachen vermögen und das Leben einen Hauch lebenswerter machen.

Man erkennt sie an ihren Gesichtern, an ihrer Lockerheit, an ihrem Humor und ihrem Witz, an ihrer Weitsicht, und auch daran, dass sie noch im Alter schön sind, egal, wie sie aussehen. Sie sind Charaktere. Sie haben den Mut, vollkommen unvollkommen zu sein und besitzen unzweifelhaft Charakter und Persönlichkeit, sie sind einmalig, unwiderstehlich und oft genial.

Stern: Christina Kessler

Ja, die Wilden sind unbestreitbar eine eigene Gattung. Man könnte sie auch homo sapiens amans nennen, eine Bezeichnung, die der Biologe Umberto Maturana prägte – verliebt in das Leben und gleichzeitig verzweifelt darüber, dass so wenige Menschen auf Grund gehen und sich daher immer wieder im Kreislauf des Leidens verfangen, anstatt ihr Herz in die Hand zu nehmen und für das Glück und die Liebe zu gehen.
Man erkennt sie daran, dass sie sich nicht um das scheren, was man müsste und was man sollte, sondern straight ahead aufs Ganze gehen – und sich trauen, das Wort Liebe in den Mund zu nehmen. Sie sind nicht zu feige, sich zu dem zu bekennen, an was sie glauben; weder besorgt, ihren guten Ruf zu verlieren, noch darum, einen solchen zu erwerben. Sie tun, was getan werden muss, weil sie es so wollen.

Die wilden Herzen durchbrechen die Mauern von Zivilisation, mechanistischer Wissenschaft und dogmatisierter Religion. Sie sind Pioniere einer neuen Spiritualität, die mehr ist als eine bloße Denkdisziplin oder ein spezifisches Gebahren. Sie empfinden sich weder als fromm, noch als außergewöhnlich, noch verbringen sie ihren Tag mit esoterischen Praktiken.
Selbst als Leader weigern sie sich, auf einen Sockel gestellt zu werden und die Leinwand für alle möglichen Projektionen und Erwartungen abzugeben, auch wenn sich diese manchmal verdammt gut anfühlen. Sie möchten sich selbst treu bleiben und ein Mensch unter Menschen sein. Ihre Schwächen und Macken, Narben und Schrunden wollen sie nicht verbergen müssen, denn sie haben gelernt, sie anzunehmen, und fühlen sich gerade ihretwegen ganz. Zudem sind sie ihnen dankbar, dass sie den Hochmut dämpfen, wann immer dieser aufzusteigen droht.
Ja, sie haben ihre Ungezähmtheit entdeckt, deren Kraft unmittelbarer ist als alles, was sie zuvor in den traditionellen Praktiken kennenlernten – eine Kraft, die verjüngend wirkt, weil sie verhindert, dass man einrostet, festklebt und sich verbiegt. Diese Wildheit gibt ihnen keine Chance, lange in der Tretmühle des Besser-Sein- und Sich-behaupten-Müssens hängenzubleiben oder träge und schwerfällig zu werden.

Menschen, die wirklich lieben, erlauben sich, ihre höchste Vision vom Leben wahr werden zu lassen. Und sie fangen jetzt damit an, nehmen ihren Platz dort ein, wo es sie am meisten hinzieht. Der Christ hat das Paradies auf das Leben nach dem Tode vertagt, der zivilisierte Mensch verschiebt es ständig auf die Zukunft. Das Bestreben der Wilden und Liebenden ist es, ihr Lebenskapital hier und jetzt zu nutzen – und zwar nicht nur das individuelle Potenzial, sondern auch das des Menschseins, das gesamte Spektrum des Bewusstseins, das eigene unendliche, grenzenlose Wesen – um weltoffen, weltweit und die Welt umarmend mit der Vielfalt der kreativen Möglichkeiten zu spielen und „das Leben lebendiger werden zu lassen“, wie Hans-Peter Dürr sagt.

Der Homo sapiens amans ist frei und ohne Sorgen. Aber nicht, weil er sie unter den Teppich kehrt, sondern weil er es versteht, seine Sorgen zu recyclen und neuen Sorgen vorzubeugen. Er liebt den Luxus des Einfachen, der ihm erlaubt, Zeit zu haben für das Wesentliche, vom Notwendigen das Beste zu wählen und immer mehr Raum für die Weisheit der Liebe zu schaffen. Er ist schlicht und einfach ganz er selbst. Gerade deshalb erscheint er außergewöhnlich. Er fasziniert, aber der Zauber, den er ausübt, ist echt. Er vermag Herzenstüren zu öffnen, den Lebensfunken in anderen zu entzünden und überall Leuchtspuren zu hinterlassen. Er verändert die Welt dadurch, dass er Tag für Tag etwas von seiner Persönlichkeit ausstrahlen lässt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen oder sich als Beispiel darstellen zu müssen.

Wilde Herzen denken oder handeln nicht der Norm entsprechend, sondern gehen ihren eigenen Weg. Daher sind sie von der Meinung anderer unabhängig. Solche Menschen leuchten aus sich selbst heraus. Ihre Souveränität wurzelt in der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, in Selbstachtung und Selbstvertrauen. Sie genügen sich selbst, kennen ihren Wert, ihre Stärken und ihre Schwächen. Sie sind mit ihrer inneren Stimme verbunden und folgen ihr bedingungslos. Daher befinden sie sich am richtigen Platz und bringen sich von dort aus ein – autonom, mutig, zum Wohle des Ganzen. Es ist ihre Integrität, die sie beliebt macht. Man kann sich auf sie verlassen, ihnen vertrauen. Sie besitzen eine natürliche Autorität, weil sie Verantwortung übernehmen – für sich selbst, für ihre Aufgaben, ihren Weg und das Ganze.

Die Magie ihrer Persönlichkeit lässt uns etwas von dem Geheimnis erahnen, das sich in allem verbirgt und nach dem wir uns alle sehnen. Sie zeigt uns, dass wir alle unser Leben verwandeln können, und auf welche Weise dies geschehen kann.

Der Mensch ist vielmehr ein Künstler als ein Arbeiter.
Er ist nicht der Mechaniker des Universums –
Der Mensch ist der Künstler der Schöpfung.
Raimon Panikkar

Hintergrund: „Es ist höchste Zeit für die Revolution des Wilden Herzens“, sagt die Ethnologin und Philosophin Christina Kessler in ihrem Buch Wilder Geist – Wildes Herz. In weltweiten Feldforschungen untersuchte sie in den letzten 35 Jahren das Weisheitswissen und die Lebenskompetenzen vieler Kulturen und machte eine faszinierende Entdeckung.

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6 Kommentare zu “Die neuen Helden
  1. Björn sagt:

    Faszinierender und zugleich inspirierender Text. Vielen Dank dafür!

  2. i. sagt:

    „der luxus des einfachen“…, h.-p.dürr…, maturana…
    die frau hat vom baum der erkenntnis genascht.
    wilde liebeserklärung !

  3. Dominic sagt:

    Danke für diesen klaren und erhellenden Text.

  4. Theodor M. sagt:

    Toller Text danke…
    Gibt’s eine Anleitung wie ich da hinkommen kann…

  5. Tom Müller sagt:

    Die Lehre und meine Ausbildung bei Christina Kessler waren für mich ein wesentlicher Impulse und Wendepunkt in meinem Leben.

    Was ich schon seit frühester Kindheit erahnt hatte, kam dort zum Vorschein: Mein wilder Geist und mein wildes Herz. Auf dem gemeinsamen Weg mit ihr als Lehrerin und anderen gleichsam Suchenden kam ich wieder auf meinen Lebenskurs.

    Sie war es, die mich mit eben diesem Buch an meine intensive Verbindung im Geiste mit Joseph Beuys erinnerte und den erweiterten Kunstbegriff.

    Jetzt bin ich wieder als Künstler mit wildem Herz unterwegs und arbeite mit – im Beuysschen Sinne – an der Sozialen Skulptur, unserer Gesellschaft.

    Christina Kesslers Lehre und ihre Impulse wirken in meiner Arbeit. Auf diese Weise erreiche ich viele Menschen viel tiefer.

    Meine Empfehlung: Unbedingt lesen, kennenlernen und sich das Herz öffnen lassen.

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