Von der Nullbock- zur Warum-Generation

Foto: Nils Ole

Foto: Nils Ole

Auszüge aus “Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen“ von Brigitte Hieronimus 3. Jahrsiebt (14 bis 21 Jahre). Jetzt findet eine Auseinandersetzung mit alten und neuen Rollenbildern statt: die Suche nach der eigenen Identität. Es beginnt zunächst damit, das Mutter- und Vaterbild offen zu hinterfragen, zu beanstanden oder anzugreifen, um sich dann mit Popstars, Models oder Fußballstars zu identifizieren. Viele der in den 50ern Geborenen wollten zum Beispiel nie so spießig und konservativ leben wie ihre Eltern.

Die innere Frage „Wer bin ich eigentlich?“ äußerte sich aber damals wie heute in vielerlei Suchbewegungen; man fühlt sich von den unterschiedlichsten Dingen und „Vorbildern“ angezogen, nur um sie dann kurze Zeit später wieder auszutauschen. Es fehlt jetzt an Stabilität und Orientierung – und das kann für viele verwirrend sein. In den rebellischen siebziger Jahren stemmten sich die jungen Leute nicht nur gegen das langweilige, verkrustete Elternhaus, sondern auch gegen Alt-Nazis und reaktionäre Politiker. Es wurde lautstark diskutiert, protestiert und demonstriert.

Das haben die heute 15- bis 30-Jährigen kaum noch nötig. Sie haben, was sie brauchen, wozu sich auflehnen? Was diese Generation erschüttert, kommt von außen: Der 11. September 2001 zog ihnen den sicher geglaubten Boden unter den Füßen weg. Schließlich stehen die USA, insbesondere New York ganz oben auf der Prioritätsliste für einen Auslandsaufenthalt. Umweltkatastrophen, islamistischer Terror, Flüchtlingsströme und Wirtschaftskrisen prägen die Welt, in die sie hineinwachsen. Doch in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist, wo Krisen und Katastrophen an der Tagesordnung sind, lernen sie etwas Entscheidendes: Nichts ist für immer, und nichts ist planbar.

Der umgepflügte Boden der 50er-Jahre-Generation
Für unsere Generation gab es offensichtlich noch genügend Themen, die wichtig genug waren, um sich vehement aufzulehnen. Die Zeit war aber auch reif … So brachte die Freigabe der Pille eine erste durchgreifende gesellschaftliche Veränderung mit sich, wobei die befürchteten sexuellen Ausschweifungen nur relativ kurz währten. Offene Beziehungen und Ehen hielten nämlich nicht allzu lange. Von den wilden Exzessen der Rockstars waren wir zwar begeistert, doch sie waren nicht übertragbar auf das eigene Leben. Kiffen bedeutete in den Siebzigern Aufbruchsstimmung, und erzeugte kombiniert mit bestimmten Musikrichtungen einen herrlichen Rauschcocktail: Man diskutierte über Gott, der tot war, und die Welt die bestechlich war, philosophierte auf Patchworkdecken über Kants und Hegels Theorien, hörte „The Doors“ und schaute auf zu Che, dessen Konterfei an der Tür klebte. Wir trieben uns in unerforschten Gebieten herum, von denen unsere Eltern keinen blassen Schimmer hatten.

Für viele der heutigen Generation ist Kiffen überhaupt nichts Extremes mehr, stattdessen wird mit Koma- und Flatratesaufen um Abstürze gewetteifert. Sie schauen sich Pornos im Internet an und schwören trotzdem auf Treue. Der Reiz des Ausbrechens ist vorbei und das Bedürfnis nach Empörung längst abgeflaut. Im Grunde steht auf materieller Ebene das meiste zur Verfügung; und auch die Eltern scheinen viel lockerer geworden zu sein: Mutter und Tochter gehen zusammen Dessous shoppen, gucken dieselben Soaps, verpassen keine DSDS-Sendung und lieben beide Lovesongs von Adele und Pink.

Väter und Söhne sehen von hinten ähnlich aus, beide tragen ihre Jeans auf Halbmast, die Hemden aus der Hose und haben einen rasierten Haaransatz. Sie flitzen mit ihren Rennrädern um die Wette und gehen beide ins Fitnesscenter – der eine zu McFit, der andere zu Fitness First. Von außen gesehen scheint alles harmonisch und perfekt zu sein. Doch die junge Generation kann und wird zukünftig anders leben als ihre Eltern und Großeltern. Während die einen schon jetzt zu strengen Veganern werden, lassen andere noch nicht von Fast Food ab. Wo die ersten sich eine vorübergehende Mediendiät verordnen, fahren andere garantiert nirgends hin, wo es kein W-LAN gibt. Noch wagen die meisten jungen Menschen kaum Experimente in puncto Ausbildung, weil eine Lehre in Einzelhandel, Büro oder Verwaltung, als medizinische Fachangestellte oder Arzthelferin sicher erscheinen, doch ganz allmählich ändert sich auch da etwas: Junge Männer interessieren sich durchaus für soziale Berufe wie Erzieher und Musikpädagoge, junge Frauen wollen Soldatin oder Kraftfahrerin werden oder studieren eifrig BWL, und erstaunlich viele junge Menschen wollen in die Pflege oder geben Psychotherapeut als Wunschberuf an. Zwar haben sie heute mehr Freiheiten, was sich auch in einem Mehr an Wahlmöglichkeiten zeigt, doch ob diese Freiheiten auch dazu führen werden, sich von inneren Ängsten zu befreien, muss sich erst noch erweisen.

Trümmer- statt Wanderjahre
Und die Großeltern- und Elterngeneration, die Kriege erlebt haben? Wie steht es um deren Lehr und Wanderjahre? Schließlich gab es da kaum etwas auszuprobieren, weil alles in Schutt und Asche lag. Noch Ende des Krieges wurden 15- und 16-jährige Jungen dem Wahnsinn geopfert. Zurück blieben die kleinen Geschwister sowie junge Mädchen und ihre Mütter, die sich angesichts der schmerzvollen Verluste verhärten und auch ihre weibliche Identität zum Teil aufgeben mussten. Hingabe, Zärtlichkeit, Feinfühligkeit und Empathie waren für viele damals ebenso fehl am Platz wie Rebellion, Trotz oder Widerstand. Erst mussten sie sich um das tägliche Überleben, dann um den Wiederaufbau kümmern. Die Frauen haben Nahrungsmittel und Geld zusammengehalten und gespart. Nichts wurde vergeudet oder einfach weggeworfen. Aus diesem Grund ist auch nachvollziehbar, dass viele Mütter dieser Generation sich schwer damit taten, zu verstehen, was ihre heranwachsenden Kinder begeisterte. Die Sendung „Beat Club“ mit dieser „verrückten Musik“ und die Mode der „langhaarigen Hippies“ erzeugte bei ihnen pure Abwehr. Sie verehrten immer noch Greta Garbo, Zarah Leander, Marlene Dietrich und tanzten mit Gerhard Wendland in den Morgen. Wer um seine Kindheit und Jugend gebracht wurde, hat Mühe, die heranwachsende Jugend zu lieben und deren vorwärtsdrängenden Energien zu akzeptieren. Kriegsereignisse und Entbehrungen lassen Kinder und Jugendliche ernst, ängstlich oder zynisch und vorzeitig erwachsen werden. Fröhlich-übermütige Unbeschwertheit kennen sie so gut wie nicht. Folgerichtig oblag es den in den 50er Jahren Geborenen, sich auszuprobieren, was ihren Eltern verwehrt geblieben und entsprechend fremd war: Freiheit, Gerechtigkeit, Weltfrieden.

Gescheiter durch Scheitern
Warum also muss alles erst zerfallen, bevor etwas Neues aufgebaut werden kann? Die Geschichte lehrt: Sobald Gemeinschaften starr und deren Entwicklungsfähigkeiten beschränkt und beschnitten werden, setzen Verfallsprozesse ein. Und zwar auf allen Ebenen. Das Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl in politischen, gesellschaftlichen und familiären Systemen geht nach und nach verloren. Jeder sorgt sich nur noch um das eigene Wohlergehen. Offenbar müssen untauglich gewordene Systeme zusammenbrechen, damit Fragen wie „Was wollen wir eigentlich wirklich?“, gestellt werden.

Aber setzen wir uns auch ein für das, was wir wollen? Innerhalb der eigenen Biografie zu erkennen, wie es um das Wollen und Wählen bestellt ist, erweist sich in der Regel als wichtiger Wegweiser. Haben wir unser Studienfach, unseren Beruf, unseren Partner frei, also ohne Beeinflussung von außen gewählt? Oder wurden wir in eine bestimmte Richtung gedrängt? Musste ich dem gleichen Beruf folgen wie mein Vater? Redeten mir meine Eltern beispielsweise das Medizinstudium aus, da mein Vater nichts von Akademikern hielt, weil er Handwerker war? Wie habe ich mich in dieser Situation positioniert? Welche Rolle nahm ich innerhalb der Familie ein? War ich eine Trotztochter, die sich erst spürt, wenn sie Widerstand leistet und für ihre Überzeugungen eintritt? Oder eher eine Fürsorgetochter, die sich über Helfen und Aufopfern definierte und immer zu wissen glaubt, was gut für den anderen ist? Wir wählen die Rollen, die wir einnehmen, nicht immer freiwillig. Manchmal passen sie zu unserer Persönlichkeitsstruktur, manchmal nicht. So kann es vorkommen, dass wir einen unpassenden Beruf wählen oder eine nicht tragfähige Beziehung eingehen …

Zwischen 16 und 21 Jahre beginnt die Zeit der inneren Ablösung von den Eltern.

Entsprechend werfen innerlich ungelöste Konflikte mit ihnen lange Schatten auf unsere Zukunft. Ein Sohn, der sich nicht aus der emotionalen Verstrickung und Umklammerung seiner Mutter lösen konnte, wird kaum gelingende Bindungen zu Frauen herstellen können, weil er das innere Mutterbild auf jede Frau überträgt, mit der er eine nahe Beziehung eingeht. Und eine Tochter, die sich ihrem Vater emotional näher fühlt als der Mutter, weil diese ihr nicht den gewünschten emotionalen Halt geben konnte, idealisiert das Bild des Vaters und damit das Bild des Mannes. Kommt es in der Partnerschaft später zu Konflikten kämpft sie um das, was sie weder bei der Mutter noch bei dem Vater ausreichend bekommen hat. Töchter, die sich enttäuscht von der Mutter abwenden, wissen oft nicht, warum sie sich mit ihren unerfüllten Bedürfnissen an den Vater wenden. Dieser kann ihr naturgemäß nicht die mütterliche Nähe geben, sondern fördert eher das Leistungs-und Autonomiestreben. Die jeweilige Art und Weise, wie wir versucht haben, in der Herkunftsfamilie Oberwasser zu bekommen, ist unter anderem dafür verantwortlich, welche (vermeintliche) Identität wir uns aufbauen. Diese scheint uns auf den Leib geschneidert, solange wir mit ihren Vorzügen punkten können. Ob es sich nur um wackelige Pseudo-Identitäten handelt, merken wir erst, wenn wir trotz Idealismus und Anstrengung hart auf dem Boden der Realität landen. Gut so. Denn nun beginnen wir, unser Leben immer mehr in die eigene Hand zu nehmen.

Das dritte Jahrsiebt (14 bis 21 Jahre):

  • Welche Menschen haben mich in dieser Zeit stark beeinflusst – im Positiven wie im Negativen?
  • Welche Menschen ziehen mich heute besonders an? Was sind ihre besonderen Eigenschaften und Qualitäten?
  • Welche Grenzen wollte ich damals testen?
  • Welche habe ich gewagt zu überschreiten?
  • Wie gehe ich heute mit Begrenzungen um?

Hintergrund: Das ist der dritte Teil einer Serie bei den newslichter, in der monatlich immer ein Lebensjahrsiebt vorgestellt wird. Dank an den Kamphausen Verlag für die Freigabe der Auszüge aus dem Buch Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen. Eine ausführliche Besprechung des Buches hier.

brigitteZur Person: Brigitte Hieronimus arbeitet als erfahrene Paar-und Biografieberaterin, Trainerin, Referentin zum Thema Wechseljahre und Dozentin für biografisches Schreiben. Der Autorin gelingt es auf lebendige Weise, den Lesern eine mutmachende neue Sichtweise zu vermitteln. Daher ist sie immer auch gefragte Interviewpartnerin in TV, Hörfunk und Presse. Mehr auf ihrer Webseite www.brigitte-hieronimus.de

Sharing is Caring 🧡
Posted in Heilung Verwendete Schlagwörter: , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Dein Kommentar wird nach der Prüfung freigeschaltet. Bitte beachte, Einschätzungen und Meinungen in Ich-Form zu formulieren und die AutorInnen zu wertschätzen. Nicht identifizierbare Namen (Nicknames), Kommentare ohne erkennbaren Bezug auf den Inhalt des Artikels und Links zu nicht eindeutig verifizierbaren Seiten bzw. zur Eigenwerbung werden grundsätzlich nicht freigeschaltet.