Biographiearbeit: Willkommen in der Realität (Teil 1)

Foto: newslichter

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In den Jahren zwischen 22 und 42/Auszüge aus “Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen“ von Brigitte Hieronimus. Wie die Welt in den Jahren bis zum 35. Jahr wahrgenommen wird und wovon man meint, dass es einem zusteht, hat mit dem individuellen Grad der Selbstüberschätzung zu tun. Jene elterlichen Haltungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen, die zwischen 5 und 15 Jahren unbewusst übernommen und verankert wurden, tauchen erst zwischen 40 und 50 in unserem Bewusstsein auf, um dann überprüft zu werden.

Bis dahin glaubt man lange Zeit, man könne all das, was man will, auch schaffen. Wenn das Leben ruft, stürmt man mit ausgebreiteten Armen los. Pläne wollen verwirklicht und die besten Chancen genutzt werden. Warum warten, wenn ich´s doch jetzt schon haben kann? Alles unter einen Hut zu bekommen, das sollte möglich sein. Raus aus der engen Zweizimmerwohnung in ein elegantes Loft. Nach der Uni locken Unternehmen mit lukrativen Jobs, nach der Lehre schnelle Aufstiegschancen. Beruf und Beziehung, der Spagat zwischen Karriere und Familie, all das wird schon gelingen. Es gibt schließlich Kitas, Tagesmütter, Teilzeit. Wir arbeiten für Urlaube in fernen Ländern, für, Restaurantbesuche, edle Möbel, schnittige Autos, für teure Yoga-oder Wellnesskurse, weil unsere Zufriedenheit davon abhängt …

Wer nichts von alledem erreichen kann, wird gesellschaftlich zum Außenseiter und fühlt sich vom Leben benachteiligt. Und so braucht es mehr als fünf Jahrsiebte, um allmählich zu akzeptieren, dass sich das Leben nicht unbedingt an unsere individuellen Wünsche und Vorstellungen hält. Vieles ist ganz anders gekommen als gedacht. Elternschaft ist anstrengend; die Kinder brauchen unsere ganze Aufmerksamkeit, wollen pausenlos beschäftigt werden, sind zu den unpassendsten Zeiten krank, bekommen Allergien, essen den Teller nicht leer; ständig muss man sich zurücknehmen, will zwar alles besser machen und macht trotzdem manches falsch. Erziehungsratgeber stapeln sich, je unsicherer Mütter werden. Der Gedanke wieder berufstätig zu werden, wirft wiederum neue Fragen auf …

Ambivalenzen fördern Reifungsprozess
Immer mehr Mütter trauen sich zuzugeben, dass sie die Mutterrolle im Grunde ablehnen, weil sie sich nicht mit ihr identifizieren können, obwohl sie von sich meinen, ihre Kinder zu lieben. Stünden sie noch einmal vor der Wahl, würden sie sich nicht mehr für eine Mutterschaft entscheiden. Nicht alle Ambivalenzen des Lebens sind so eklatant wie dieses Beispiel, aber sie zeigen sich in zahlreichen Lebensentscheidungen. Was man in jüngeren Jahren glaubte zu brauchen, entpuppt sich in späteren Jahren vielleicht als unnötig oder störend. Nicht für jede Frau scheint die Mutterschaft das große Glück zu sein, weil es weder zu ihrer Persönlichkeit noch zu ihrem Lebensentwurf passt, und nicht für alle Männer scheint die Ehe der richtige Weg. Treten solche Ambivalenzen zu Tage, gilt es, sich bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen, um den nötigen Reifeschub in Gang zu bringen.

Der aktuelle Generationswandel manifestiert sich auch daran, dass immer mehr junge Frauen sich nicht allein über die Mutterrolle definieren wollen, sondern ein unabhängiges Leben anstreben. Auch zum Lebenskonzept des Mannes gehört nicht länger zwangsläufig eine eigene Familie im eigenen Haus. Für viele ist es attraktiver, sich beruflichen Herausforderungen zu widmen und seine Freizeit bestmöglich zu genießen. Drängt die Freundin plötzlich auf Familiengründung, weil ihre biologische Uhr tickt, könnte man ja trotzdem weiter zusammenleben, dann eben zu dritt; doch sie will eine Traumhochzeit. Gut, heiraten wollte man zwar auch irgendwann, aber so früh? Und wenn Hochzeit – und dann bitte auch das Eigenheim. Wenn schon, denn schon. Motorrad und Aktien werden verkauft und im Beruf noch mehr rangeklotzt. Zur Entspannung locken Fitnessstudio, ein, zwei Bier nach Feierabend und ab und zu ein Konzert oder Pokerabend mit alten Freunden. Doch die Geselligkeiten werden seltener, weil Überstunden zunehmen und geschätzte 148 Mails gescheckt werden müssen, bevor es nach Hause zu Frau und Kinder geht, auf die man sich eigentlich freut, wenn sie nur nicht so gefrustet und die Kinder nicht so lärmen würden. Abendessen, Kinder ins Bett verfrachten, ein bisschen vorlesen, mit der Frau auf dem Sofa durch TV-Sender zappen, ein Glas Wein oder einen Grappa als Absacker. Für Sex ist man leider zu müde, vielleicht am Samstagabend oder Sonntagmorgen, wenn die Kinder noch schlafen. Mal sehen …

Die Weichen neu stellen oder den Zug wechseln
Und irgendwann, beim Gläserpolieren oder Rasenmähen, tauchen Zweifel auf: Soll das wirklich schon alles gewesen sein? Etwas in uns rebelliert plötzlich. Nun kommt es darauf an, wie mit diesen inneren Zweifeln umgegangen wird. Passen wir uns weiterhin an, weil wir abhängig sind von dem, was andere denken und wollen, oder weil wir Angst haben vor den Konsequenzen einer neuen Weichenstellung? Da haben uns die Eltern finanziell unterstützt beim Hausbau, und nun wollen wir das Haus verkaufen, weil wir lieber in der Welt herumreisen, statt Kredite abzuzahlen? Jahrelang haben wir uns ins Zeug gelegt, um diesen Posten zu bekommen und nun überlegen wir, ihn aufzugeben und uns selbständig zu machen? Wie vermitteln wir das der Liebsten, die uns die ganze Zeit den Rücken gestärkt und auf vieles verzichtet hat?

Ja, wir wollten unsere Mutterschaft unbedingt, doch die ausschließliche Familienarbeit ist zermürbend geworden; wir spüren unseren Hunger nach neuen Herausforderungen, Weiterbildung und Wissen. Am liebsten möchten wir eine eigene Wohnung, aber wollen wir uns denn trennen und die Kinder im Stich lassen? Werden Veränderungswünsche vehement abgewehrt, ist die Krise nicht mehr weit. Wer den Umbruch unterdrückt, zahlt früher oder später einen Preis für den Verzicht. So nimmt die Zahl der Trennungen und Scheidungen in diesen Jahren des Umbruchs auffällig zu, weil das die einzige Lösung zu sein scheint und Freiheit verspricht. Nun werden Erfahrungen gesammelt, die man so eigentlich auch nicht machen wollte … So manch Lebenstraum platzt, der womöglich bei genauem Hinsehen von Anfang an auf Sand gebaut war. Das Zerplatzen von Träumen und Vorstellungen ist häufig unvermeidlich, wenn es darauf ankommt, sich der Lebensrealität zu stellen, was wiederum einen notwendigen Reifungsschub in Gang setzt. Es geht nun darum, grundsätzlich zu akzeptieren, dass uns etwas widerfährt, was wir nicht in der Hand haben. Können wir uns also in misslichen und enttäuschenden Situationen selbst regulieren und dem Leben trotzdem seinen Lauf lassen?

Im günstigsten Fall setzt um den 40. Geburtstag, mal früher, mal später, eine Phase der Reflexion über die übernommenen Rollen und die damit verbundenen Funktionen ein: Was im Leben belastet oder überfordert uns? Wo fühlen wir uns eingezwängt? Haben wir bereits gelernt, uns kritisch mit unserem Bild von den eigenen Eltern und anderen Autoritäten auseinanderzusetzen, können wir uns nun Zeit für die eigene Zwischenbilanz nehmen: Wo zieht es mich jetzt hin? Wobei spüre ich freudige Aufbruchsstimmung? Wo zeichnet sich bereits ein Wandel ab? Es geht nicht darum, sich vorzuwerfen, etwas falsch entschieden zu haben, sondern um eine Nachjustierung. Schließlich können wir erst dann eine Verbesserung vornehmen, wenn etwas zuvor gelebt und gestaltet wurde. So stellen wir möglicherweise fest, wie sehr wir an dem hängen, was wir uns aufgebaut und angeschafft haben. Wie einst unsere Eltern, so können auch wir uns nicht ohne weiteres von unserem erworbenen Status und materiellen Wohlstand lösen.

Unsere innere Einstellung zu den materiellen Dingen, Anhaftung und Identifikation kommen auf den Prüfstand. Damit werden die ersten Weichen neu gestellt und zögerliche Korrekturen vorgenommen: Wer früh arbeiten musste, weil die Schulnoten schlecht waren oder kein Geld für ein Studium da war, wer sein Studium ständig in die Länge zog, weil er sich nicht für das unsichere Leben außerhalb der Uni entscheiden konnte, wird jetzt vielleicht nachdenklich und überlegt, was sich nachholen ließe. Manche haben sehr früh geheiratet, weil sie dem Elternhaus entfliehen wollten, andere blieben im WG-Leben stecken, weil sie die Einsamkeit fürchteten. Um die 40 beginnt eine Phase, in der es viele Menschen drängt, Versäumtes nachzuholen, andere wiederum fühlen sich erst jetzt reif genug, um sich für etwas zu entscheiden, was bis dahin undenkbar war. Einige holen ihren Schulabschluss nach oder bewerben sich um einen Job im Ausland; andere investieren in berufliche Weiterbildungen oder schulen um; etliche Paare leisten sich getrennte Wohnungen oder bauen jetzt erst ein Haus und heiraten. Biografisch sind das alles Schritte neuer, weil bewusster Autonomie.

Der 2. Teil für diesen Lebensabschnitt mit dem Thema Wechseljahre erscheint im September 2016.

Hintergrund: Das ist der vierte Teil einer Serie bei den newslichtern, in der monatlich immer ein Lebensjahrsiebt vorgestellt wird. Dank an den Kamphausen Verlag für die Freigabe der Auszüge aus dem Buch Mut zum Lebenswandel – Wie Sie Ihre biografischen Erfahrungen sinnvoll nutzen.Eine ausführliche Besprechung des Buches hier.

brigitteZur Person: Brigitte Hieronimus arbeitet als erfahrene Paar-und Biografieberaterin, Trainerin, Referentin zum Thema Wechseljahre und Dozentin für biografisches Schreiben. Der Autorin gelingt es auf lebendige Weise, den Lesern eine mutmachende neue Sichtweise zu vermitteln. Daher ist sie immer auch gefragte Interviewpartnerin in TV, Hörfunk und Presse. Mehr auf ihrer Webseite www.brigitte-hieronimus.de

 

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