Die Schicht unter den Belichtungen

Charlotte Sachter: Der Hamburger Hafen 2002 mit einer LOMO LCD

Charlotte Sachters LOMO-Fotografien mit Doppelbelichtung begleiten und faszinieren mich schon länger. Egal ob bei Ihren Ausstellungen, als Erinnerung an eine Hochzeit oder als Impressionen meiner Lieblingsstadt Hamburg — sie haben immer einen ganz eigenen Charme und eine Tiefgründigkeit, die rein intellektuell nicht zu erfassen ist. Nachfolgend schreibt Charlotte Sachter über ihre ganz eigene Art des Fotografierens, die an der Schicht unter dem Belichteten interessiert ist:

Ich fotografiere mit einer LOMO LCD. Die in St. Petersburg hergestellte Kamera hat einen einfachen mechanischen Transport. Ihre Farbbrillianz gewinnt sie durch ein Zeiss-Objektiv. Für mich geht es beim Fotografieren um die „Schicht unter dem Belichteten“. Meine Streifzüge unternehme ich wie eine „Ferngesteuerte“. Ich fühle mich dann wie ein Tier, das sich auf Fährtensuche befindet. Ich folge einfach meinen Impulsen, es ist mir selbst nicht klar, an welche Orte ich mich begebe, es bringt mich dorthin. In diesem Fall bin ich einfach mit der Hamburger S-Bahn losgefahren und mit dem HVV-Schiff weiter und habe mich in der ehemaligen Speicherstadt „wieder gefunden“.

Das Foto ist eine Doppelbelichtung. Die entsteht durch einfaches Zurückdrehen des Films. Das Besondere an dieser Art Bilder ist, dass sie nicht, wie es die andere Methode der Doppelbelichtung erlaubt, auf dem Entwicklungstisch zusammengestellt werden und sich das gewünschte Ergebnis intellektuell oder kognitiv gewollt entwickelt, sondern der „Zufall“ bestimmt das Ergebnis. Bei den Hunderten von Bildern, die ich auf diese Weise fotografiert habe, ist mir deutlich geworden, dass sich meine Hingabe an das „Nicht-gesteuerte“ natürlich auf die Bilder überträgt. Sie spiegeln meinen „Seelenzustand“ und wahrscheinlich meine tiefen Sehnsüchte und Wünsche.

Was ist dabei wichtig? Außer meiner inneren Spannung, der ich wie einem vorgeschriebenen Weg folge, sind meine Sinne in diesem Zustand konzentriert, geschärft und ähnlich wie bei einer Meditation dennoch unscharf und nicht fokussiert. Ich kann mir vorstellen, dass dies einem autistischen Zustand ähnelt, in dem ich selektiv bestimmte Bilder, Szenen und ihre Stimmungen in äußerster Intensität erlebe und genau weiß, wann der Moment des „Auslösens“ da ist. Das Übereinanderlegen der Bilder geschieht so oft so passend, dass ich daraus für mich gelernt habe, dass ein technisches oder mechanistisches Gerät, das ich in künstlerischer Weise gebrauche, ebenso fähig ist, innere Inspiration zu übertragen, wie es ein Pinsel vermag oder das Spiel eines Instruments.

Das Bild oben verbindet für mich die fast klischeehafte, kitschige Kulisse eines Sonnenuntergangs über der Baumwallbrücke (wie er in meine Werbekatalog abgebildet sein könnte) mit dem Bruch oder auch der Überhöhung des Klischees durch das Moment der „verwischenden“ Überlagerung. Das Neblige, das von der rechten unteren Ecke des Bildes in die „Schönheit“ des Naturereignisses eindringt, vernebelt interessanterweise genau die alltägliche, städtische Nüchternheit der Bürokomplexe und des Straßenverkehrs ohne sie zu überdecken. Sie sind zugunsten einer anderen Ebene in den Hintergrund gedrängt. Diese andere Ebene bemächtigt sich mit seiner nebligen Überlagerung dem Klischee. Das zweite Bild im Bild lässt die Brücke an ihrem Ende abbrechen. Sie eröffnet damit den Blick in eine von Silhouetten gezeichnete Dimension. Die Schönheit und die Bedrohlichkeit verbinden sich in ihrer Gleichzeitigkeit.

Wolfgang Ullrich schreibt in Die Geschichte der Unschärfe: „Wie die Unschärfe das Foto zu etwas rein Vergangenem – zur traurigen Reliquie – werden lässt und Authentizität gerade ausstrahlt, weil der fotochemische Ursprung des Bildes offener zutage liegt als bei einem scharfen Foto, gibt es ebenso Unschärfe-Effekte, die ein Bild authentisch machen, weil sie dessen Sujets besonders gegenwärtig erscheinen lassen. Das Foto ist dann eher eine Kontroverse, die gespeichertes Leben jederzeit wiederaufleben lässt, und nichts liegt bei einer Betrachtung ferner als Nostalgie. Meist handelt es sich dabei um flüchtig wirkende, leicht verwischte, bewegungsunscharfe oder „schiefe“ Bilder, um eilig, sorglos angefertigte Schnappschüsse, die umso frischer und lebendiger wirken, je weniger der Fotograf eine besondere inhaltliche oder kompositorisch-künstlerische Intention damit zu verfolgen schien. Gerade die Beiläufigkeit eines Bildes verheißt Echtheit, da der Film „nur“ zeigt, worauf das Objektiv zufällig gerichtet war, und keiner Gestaltungsabsicht – manipulativen Energie – unterworfen war.“

Hintergrund: Bei www.lomo.de versammelt sich der „Fanclub“ dieser Kamera und der spontanen, authentischen Art zu fotografieren. Es finden regelmäßig Ausstellungen, regionale und internationale Treffen statt

Zur Person Charlotte Sachter (51):
Lehrberuf, Kirchenrestauratorin.
Anschließend 1983-92 Lehr- und Wanderjahre in Berlin, Theater des Westens, Renaissance-Theater, Gasthörerschaften und Theaterprojekte an der HDK (Hochschule der Künste).
Die Zeit des Nachtlebens, der Neon 80er und der Existenzialisten, Blixa Bargelds „Yello“, Nina Hagen, John Cage, Berlin als Schmelztiegel eines Insulanerdaseins, Kennenlernen von Shiatsu.
Mitte 1992 Umzug nach Hamburg, Hafen – ruhigeres Fahrwasser, Einkehr ins Innere, Praxis für Shiatsu, Integrative Körper- und Bewegungstherapie, Beratung, Unterricht, Behandlungen seit 1993.
Fortbildungen Shiatsu, Body Mind Centering, Chinesische Methoden -Akupunktur, europäische Kräuter nach TCM-Kategorien.
Parallel Studium Kultur- und Medienmanagement, konzeptionelle Arbeit im Bildungsmanagement. Auf dem Weg, ihr breites Spektrum zu verbinden.

 

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