Von Höhenflügen und Tiefgängen

The Tree of Life © 2010 Concorde Filmverleih GmbH

Das 64. Festival de Cannes war ein wahrhaft großes Fest für den Film. Die gute Nachricht vorab: obwohl gelitten, gestorben, gedemütigt und geweint wurde, schließlich sogar die Welt unterging und in Pressekonferenzen Unsinn verzapft wurde – was zurückbleibt von zehn Tagen voller Filme ist das Gefühl, Bedeutendes miterlebt zu haben. Aus den großen emotionalen Höhenflügen und Tiefgängen irgendwie gewachsen hervorgegangen zu sein.

Am besten spiegelt das der Film, der verdientermaßen mit der Goldenen Palme, dem Hauptpreis, ausgezeichnet wurde: Terrence Malicks „The Tree of Life“ (Filmstart 16. Juni), von der Filmgemeinde schon seit Jahren sehnsüchtig erwartet, ist es doch erst der fünfte Film des 68-jährigen Ausnahmeregisseurs („Der schmale Grat“, „The New World“). Er stellt sich mit aller filmischen Wucht und optischen Opulenz den Fragen nach dem Wunder Lebens, der Suche des Menschen nach Einheit mit sich selbst und mit der Natur. Die Geschichte eines strengen Vaters (Brad Pitt), der in den 50er Jahren in den USA seine drei Söhne notfalls mit drastischen Mitteln zu „echten“ Männern machen will, während die Mutter (eine Entdeckung: Jessica Chastain) für den Gegenentwurf steht, das Harmonieprinzip, einen von Verständnis und Empathie geprägten Umgang miteinander in der Familie, mit der Umwelt.

„Wir tragen Vater und Mutter immer in uns“, konstatiert Sean Penn, der den erwachsen gewordenen ältesten Sohn spielt, der zeitlebens unter dem Vaterkonflikt leidet. Es ist ein Film wie Yin und Yang. Überwältigungskino, mehr mit den Sinnen als dem Verstand zu begreifen. Wie eine Symphonie, der man sich hingibt. Die Fragen nach dem Danach, der Vereinigung von Leben und Tod, dem Streben nach Gott, der Schöpfungsgeschichte – all das schwingt mit in wunderbaren Bildern, grandiosen Landschaftsaufnahmen, in denen auch kuriose, animierte Urgeschöpfe wandeln. Und sie, die Saurier, wissen schon mehr als so mancher Mensch: sie kennen den Akt der Gnade.

Als dunkles Gegenstück quasi kann Lars von Triers („Antichrist“) großartiger, aufwühlender Film „Melancholia“ (Start: 6. Oktober) gesehen werden, mit den eindringlichsten Bildern des Festivals, die man so schnell nicht vergessen wird, und einem wuchtigen Prolog, untermalt von Wagners „Tristan und Isolde“-Ouvertüre. Den Preis als Beste Darstellerin gewann zu Recht seine Leading Lady Kirsten Dunst als junge, von Depressionen geplagte Frau, die durch eine Hochzeit ihr Geschick zu wenden versucht, allerdings selbst nicht so ganz an ihre Rettung zu glauben scheint. Die wäre auch sowieso für die Katz, denn nicht lange danach geht eh die Welt unter, getroffen vom Planeten „Melancholia“, der anders als erwartet nicht an der Erde vorbeizieht.

Von Triers Skandal-Äußerungen auf der Pressekonferenz („Ich bin ein Nazi“), wohl eher aus Langeweile und der puren Lust an der Provokation denn aus Überzeugung geäußert, brachten ihm den Bann durch die Festivalleitung ein. Der Däne entschuldigte sich – doch seine unbedachten Worte werden dem Cannes-Veteranen – er wurde hier für Filme wie „Breaking the Waves“ und „Dancer in the Dark“ ausgezeichnet – noch lange das Leben im Filmbiz schwer machen.

Leichtere Seiten schlug der Franzose Michel Hazanavicius an mit seiner schwarzweiß Komödie „The Artist“ über einen Stummfilmstar, der den Sprung in die Welt des Tonfilms verpasst und daran zu zerbrechen droht. Eine stilistisch gelungene Hommage an eine vergangene Hollywood-Ära, die seinem großartigen Star Jean Dujardin die Palme als Bester Darsteller sicherte.

Filmisch Überragendes, menschlich Überzeugendes lieferten einmal mehr die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit „Le gamin au vélo“ über einen von seinem Vater im Stich gelassenen Jungen, der seine Wut und seine Verzweiflung auf dem Fahrrad abreagiert, ehe ihn eine Friseuse (hinreißend: Cécile de France) aus dem Heim holt und ihm ein Zuhause gibt. Dafür ging der Große Preis an das belgischen Regie-Duo („Lornas Schweigen“). Der Finne Aki Kaurismäki, berühmt für seinen düster-lakonischen Touch, überraschte und bewegte mit dem wunderschönen Sozialmärchen „Le Havre“ (Start: 8. September), happy-ending inklusive.

Kurios, aber fantastisch auch der italienische Beitrag „This Must be he Place“ von Paolo Sorrentino, in dem ein grandioser Sean Penn als aus der Bahn geworfener Rockstar auf einer wahnwitzigen Odyssee durch die Vereinigten Staaten mit einem Kriegsverbrecher abrechnet und wieder zu sich selbst findet.

Zum Schluss noch zwei, die viel gewagt haben und dabei triumphierten: Andreas Dresen, dessen „Halt auf freier Strecke“ (Start: 17. 11.) als einziger deutscher Beitrag in der Nebenreihe „Un certain Regard“ lief, zeigt mit seinem mutigen Drama um einen mit dem Todesurteil Gehirntumor konfrontierten Familienvater, dass Sterben kein verzweifelter Akt sein muss.

Und der iranische Filmemacher Jafar Panahi, vom Regime mit Haft und 20jährigem Berufsverbot belegt, beweist, dass selbst brutalste Unterdrückung nicht mundtot machen muss. In einem Brot ließ er „This is Not a Film“ nach Cannes schmuggeln. Der Film zeigt, wie er in seiner Teheraner Wohnung, abgeschlossen von der Außenwelt, mit seiner Anwältin und mit Freunden telefoniert und im Wohnzimmer sein letztes Drehbuch nachstellt. Vorlesen und schauspielern ist nicht verboten – und wo es keinen Film gibt, wird auch gegen keine Auflage verstoßen. Ein Akt großen Mutes, der die Aufmerksamkeit der Welt von der Sonne Cannes’ an einen dunklen Ort richtete, der nicht in Vergessenheit geraten wird.

 

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