Tsipras kämpft mit den Erinnyen

„Alexis Tsipras3“ von Lorenzo Gaudenzi - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

„Alexis Tsipras3“ von Lorenzo Gaudenzi – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Im Hintergrund der politischen Turbulenzen in Griechenland steht eine epochale Auseinandersetzung um die künftige Weltordnung. Wie sie entschieden wird, lehrt die antike Tragödie. In Athen wird eine Tragödie gegeben. Doch heißt ihr Held nicht mehr Orest, und auch nicht Ödipus. Ihr Held heißt Alexis Tsipras, und wir sehen ihn in einem Plot, der eines Aischylos oder Sophokles würdig ist: Es ist die uralte Geschichte vom Ringen zweier Mythen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und die nicht miteinander zu vermitteln sind. Es ist ein unauflösliches Dilemma, worin die Helden nur verlieren können. Das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind.

So auch heute in Athen. Wir werden Zeugen eines Kampfes von epochaler Größe: des Zusammenpralls zweier Weltordnungen, die allein deshalb ‚Mythen‘ genannt zu werden verdienen, weil sie die Einrichtung der Welt und das Selbstbild der Menschen mit solcher Macht bestimmen, dass sich nur die wenigsten ihrer Herrschaft bewusst sind. In der Tragödie ‚Tsipras‘ haben wir zum einen jenen Mythos, der in Athen vor mehr als 2500 Jahren geboren wurde: den Mythos der Freiheit und Selbstbestimmung einer Bürgerschaft mit seinem Vertrauen in die Kraft der praktischen Vernunft und seinem Glauben an das Politische. Auf der anderen Seite steht ein Mythos, der im 18. Jahrhundert entstand: der Mythos des Ökonomismus mit seinem Glauben an die segenspendende Macht des Marktes und seinem Vertrauen in die instrumentelle Vernunft. Worüber wir uns lange hinweggetäuscht haben, wird auf der Athener Bühne sichtbar: Die beiden Mythen gehen nicht zusammen. Es ist eine Tragödie.

Beide Seiten haben Recht
Die beiden Mythen gehen nicht zusammen, weil sie in sich geschlossen sind. Sie folgen ihrer eigenen, stringenten Logik, die sich dem anderen Mythos widersetzt. Tsipras verfolgt die Logik des Politischen, er klagt das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein und verweist auf die Prinzipien der Demokratie; er hat in seinem Weltbild Recht. Dagegen stehen Frau Merkel und Herr Schäuble, die Troika und die Priesterschaft des Marktes. Sie pochen auf das ehernste Gesetz der Wirtschaft: Wer Schulden macht, hat diese zu begleichen. Und siehe da: Nach Maßgabe des Mythos, dem sie folgen, haben sie nicht minder Recht. Genau da liegt das Problem. Es ist wirklich eine Tragödie.

Um sie noch besser zu verstehen, lohnt es, sich kurz den alten Dramen zuzuwenden. Besonders eignet sich ein Stück des Aischylos. Es heißt „Die Eumeniden“, uraufgeführt im Jahre 458 v.Chr. Das Drama schildert den Konflikt zwischen dem alten Mythos der großen Muttergöttin und dem neuen Mythos der Olympischen Götter. Der Held, Orestes, hat den Zorn der Erinnyen auf sich gezogen – der Schergen und Töchter der großen Nacht, der Sachwalterinnen des alten Mythos. Unerbittlich bestehen sie darauf, dass dessen Mord an seiner Mutter nur mit seinem eigenen Blut zu sühnen sei. Kompromissloch pochen sie auf das Grundaxiom ihrer Weltordnung: Wer Mutterblut vergießt, muss dafür büßen. Auf Schuld folgt unausweichlich Sühne.

Die tödliche Kette von Schuld und Sühne
Doch treten den Erinnyen die olympischen Götter entgegen: Apollon und Athene, Sachwalter der Klugheit und Vernunft. Sie drängen darauf, die ewige Kette von Schuld und Sühne zu zerteilen und Orestes freizusprechen, da anderenfalls die Blutspur immer weiterreicht und jedes freie Leben auf der Erde schlechterdings unmöglich wird.
Die Parallele sticht ins Auge. Auch Tsipras ficht nicht einfach für politische Interessen. Er kämpft nicht einfach nur gegen die Troika und gegen Frau Merkel. Er kämpft gegen den mächtigen Mythos des Marktes, der mit derselben Unerbittlichkeit wie die Erinnyen sein ehernes Gesetz vertritt: Wer Schulden macht, muss sie begleichen. Da gibt es kein Entrinnen. Es ist das alte Mutterrecht in nüchterner Gewandung: Die Kraft, die nährt – wir nennen sie heute Ökonomie – macht ihre Logik machtvoll geltend; und allen, die für diese Logik streiten, gibt sie unbeirrbar recht.
Die Chancen stehen so gesehen schlecht für Tsipras. Zumal da kein Apollon ist, der schützend seine Hand über ihn hält. Und auch eine Athene ist nicht sichtbar, die stolz und klug der Troika der Erinnyen die Stirn zu bieten wüsste. In Russland oder China jedenfalls, findet man sie sicher nicht. Tsipras ist allein auf sich gestellt, mit seinem treuen Helfer Varoufakis … und wird wohl tragisch enden, wenn, ja wenn nicht doch zuletzt ein Gott vom Himmel steigt und den Konflikt auf eine gute Weise löst.

Der Geist der Freiheit
Wie aber soll das gehen? Es steigt kein Gott vom Himmel. Das mag wohl sein, doch ist es immer möglich, dass sich ein neuer Geist entfaltet – in unserem Falle nicht einmal ein neuer Geist, sondern kein anderer als der, der einst in Griechenland Europa aus der Taufe hob: der Geist der Freiheit, der Geist der Demokratie, der Geist der Selbstbestimmung. Im alten Griechenland hat er schon einmal das Wunder vollbracht und die Herrschaft des alten Mythos nebst seiner unerbittlichen Gesetzen gebrochen. Nur so konnte sich der Raum des Politischen öffnen, nur so konnte es zu jener unvergleichlichen kulturellen Blüte kommen, die Europa groß gemacht hat.
Der Marktmythus des 20. Jahrhunderts bedroht auf ähnliche Weise das Leben, wie es das Mutterrecht von Schuld und Sühne tat. Seine Logik der Schulden erwürgt ebenso schonungslos das Leben auf Erden – zumal seine ehernen Gesetze nicht nur gebieten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern mit Zinsen vervielfacht zurückzuzahlen.
Hier liegt die Wahrheit im Kampf des Tsipras – auch wenn er selbst es gar nicht ahnen sollte. Sein Angriff gilt einer sich verselbständigt habenden Weltordnung, die mit der Macht des Mythos über die Menschheit herrscht. Und seine Verteidigung gilt der vom Untergang bedrohten Weltordnung des Politischen, die vom entfesselten Ökonomismus überwuchert wird. Nicht nur in Athen, sondern auch da, wo jene Gespenster walten, die TTIP oder TIAP heißen…

Mythen sind Menschenwerk

Wie wird die Tragödie enden? Tragisch, so ist zu vermuten. Tragisch für Tsipras. Doch darf der Held auf eines hoffen: Vielleicht, dass seine Zuschauer begreifen: Es geht um mehr als nur um Griechenland und Euro. Es geht um einen Kampf der Mythen – und Mythen, das ist die Lektion, sind trotz allem Menschenwerk. Ihr Geltungsanspruch währt nicht ewig. Und ihre Logik ist vergänglich. Die unerbittlichen Gesetze von Schuld und Sühne, Schulden und Tilgung, sind in Wahrheit nicht unwandelbar. Sie leben nur solange wie der Mythos lebt, der sie ernährt.
Schon einmal starb ein Mythos, der den Menschen in Ketten legte: Heute glaubt niemand mehr an Blutschuld und an Sühne. Wird auch der neue Mythos sterben, der heute das Gros der Menschheit knechtet? Wird eine neue Zeit beginnen, in der es nicht mehr jedermann selbstverständlich ist, dass eine Schuld mit Zins und Zinseszins beglichen werden muss? Es muss doch wenigstens zu fragen erlaubt sein, ob dieses Gesetz wirklich ewig gelten soll. Die Antwort der Tragödie kann nur lauten: Nein – doch ist es zu ihr noch ein weiter Weg. Es ist der Weg in eine neue Welt.

Athenes Weisheit
Wenn Sie es für unmöglich halten, dass eine neue Welt jemals heraufziehen wird und glauben dass der Marktmythos alternativlos ist, dann sollten Sie noch mal in die Geschichte blicken. Dort lernen Sie, dass noch kein Mythos auf ewig währte – und viele scheinbar ewige Gesetze und Logiken zerbrochen sind. Und wenn Sie das Kapitel über die Griechen lesen, lernen Sie auch, wie der Wandel möglich wurde: indem das Alte in das Neue aufgenommen wurde. Die göttliche Weisheit von Aischylos‘ Athene liegt eben darin, dass sie die alten Muttergottheiten zwar entmachtete, ihnen dabei aber die größten Ehren und Reverenzerweise gewährte – was diese wiederum dazu veranlasste, aus Rachegottheiten zu Segenspenderinnen zu werden: zu Eumeniden.

Wird diese Weisheit auch im heutigen Athen gedeihen? Wird dort ein Geist entstehen, der die Segnungen des Ökonomismus wertschätzt und achtet und gleichzeitig die Macht des Mythos bricht, bevor seine Schuldendynamik die Menschheit ins Verderben treibt. Keinen größeren Dienst könnte Athen uns erweisen. Dass es ihn der Welt schon einmal erwies, nährt die Hoffnung, die Tragödie „Tsipras“ könne doch noch ein gutes Ende nehmen.

Christoph Quarch

Christoph Quarch

Christoph Quarch: “Für mich ist Philosophie eine Übung des Gemeinsinns. Denn wer philosophiert, gewinnt eine Vogelperspektive, die aus der Enge der täglichen Interessen und Nöte befreit und den Blick für das Ganze öffnet. Und das im Gespräch mit Anderen. Solche befreienden Höhenflüge möchte ich Ihnen bei meinen philosophischen Reisen und Seminaren ermöglichen.”
Mehr zu seinen Büchern, Vorträgen und Reisen auf seiner Website www.christophquarch.de/

 

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2 Kommentare zu “Tsipras kämpft mit den Erinnyen
  1. Projekt Gold-dna sagt:

    In diesem Zusammenhang dürfte Sie das Buch REALITY von Peter Kingsley interessieren.
    Vielleicht auch der folgende Link: http://www.gold-dna.de/updatejan15.html#nw58

    Gruß

  2. Klaus Schlagmann sagt:

    Schiefe Symbolik!

    Die alten griechischen Mythen sind wunderbare, psycho- und sozio-logisch komponierte Geschichten. Deshalb muss ich diesem – wohl gut gemeinten – Text widersprechen. Die abgeleiteten Analogien sind m.E. falsch, und zwar in erheblicher Weise.

    „Unerbittlich bestehen sie [die Erinnyen; K.S.] darauf, dass dessen [Orests; K.S.] Mord an seiner Mutter nur mit seinem eigenen Blut zu sühnen sei. Kompromisslos pochen sie auf das Grundaxiom ihrer Weltordnung: Wer Mutterblut vergießt, muss dafür büßen. Auf Schuld folgt unausweichlich Sühne.“

    Ja, in der Tat. Das ist die Position der Erinnyen. Und sie vertreten tatsächlich die wohl ältere Ideologie, das Mutterrecht, das (wohl zum Verhängnis für die Menschheit) von einer kriegerischen, dominatorischen, vaterrechtlichen Ideologie verdrängt worden ist.

    „Doch treten den Erinnyen die olympischen Götter entgegen: Apollon und Athene, Sachwalter der Klugheit und Vernunft. Sie drängen darauf, die ewige Kette von Schuld und Sühne zu zerteilen und Orestes freizusprechen, da anderenfalls die Blutspur immer weiterreicht und jedes freie Leben auf der Erde schlechterdings unmöglich wird.“

    Nein: Apollo und Athene – als StellvertreterInnen der neuen patriarchalen Ausrichtung (und damit am Ende auch: der gnadenlosen Ökonomisierung der Umwelt und der zwischenmenschlichen Beziehungen) – treten keineswegs dafür ein, „die ewige Kette von Schuld und Sühne zu zerteilen“, also zu beenden. Vielmehr billigen sie ja ausdrücklich dem Orest zu, dass er mit seinem Muttermord den Tod seines Vaters (den die Mutter zu verantworten hatte) rächen durfte bzw. sogar sollte. Es geht hier nicht darum, die „Kette der Blutschuld“ zu durchbrechen, sondern klarzustellen, wer wichtiger ist: Mann oder Frau. Der Orest-Mythos ist ein patriarchaler Mythos, der die Ideologie einer dominatorischen Gesellschaftsordnung vertritt, in der der Mann die zentrale Rolle einnimmt. Erst in diesem System ist es am Ende möglich, Schulden zu machen, für die Zins und Zinseszins verlangt werden, während die lebens- und nahrungsgebende Mutter (Natur) zweitrangig wird.

    (Dabei ist der Dramatiker Aischylos – wohl anders, als der ältere Mythos – in seinem Stück außerordentlich versöhnlich: Die Entscheidung des Gerichts fällt äußerst knapp aus – 50:50 –, und die Erinnyen erhalten in Athen – wie dargestellt – einen festen Platz zugewiesen. Trotzdem lässt auch Aischylos Apollo und Athene ein klares Votum abgeben: Orest durfte/musste seine Mutter Klytemnaistra umbringen, weil sie den Tod von Vater Agamemnon zu verantworten hatte; die beiden patriarchalen Gottheiten haben sich nicht etwa der Stimme enthalten.)

    „Die Parallele sticht ins Auge. Auch Tsipras ficht nicht einfach für politische Interessen. Er kämpft nicht einfach nur gegen die Troika und gegen Frau Merkel. Er kämpft gegen den mächtigen Mythos des Marktes, der mit derselben Unerbittlichkeit wie die Erinnyen sein ehernes Gesetz vertritt: Wer Schulden macht, muss sie begleichen. Da gibt es kein Entrinnen. Es ist das alte Mutterrecht in nüchterner Gewandung: Die Kraft, die nährt – wir nennen sie heute Ökonomie – macht ihre Logik machtvoll geltend; und allen, die für diese Logik streiten, gibt sie unbeirrbar recht.“

    Nein! Es ist grotesk, zu sagen (leicht umgestellt): „Es ist das alte Mutterrecht in nüchterner Gewandung: Wer Schulden macht, muss sie begleichen. Da gibt es kein Entrinnen.“ Gerade in den alten Gesellschaften, die noch eher mutterrechtlich orientiert waren, hat man in Clans gelebt, jeder wohl nach seinen jeweiligen Bedürfnissen. Es gab offenbar keine ausgeprägten Hierarchien. „Mutter Natur“ gab jedem dasselbe Recht, sich ihrer zu bedienen. Das waren noch wahrhaft paradiesische Zustände. Dann ging Adam irgendwann daran, sich die Erde untertan zu machen. Und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

    Klaus Schlagmann
    http://www.oedipus-online.de

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