Anleitung zum Genüsslichsein

Ute Woltron im Wein

Ute Woltron im Wein

Von Ute Woltron . Der Mensch lebt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit doch nur ein einziges kostbares Mal, wessentwegen ich persönlich es für ganz unklug halte, auch nur einen Tag dieses Daseins mit Unzufriedenheit und unnötigem Grant zu verschwenden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass jeder Tag möglichst lustvoll zu gestalten sei. Wie jeder Einzelne das anstellt, bleibt ihr oder ihm überlassen, ich jedenfalls finde größtes Vergnügen beispielsweise in der schweißtreibenden Bearbeitung meines Gartens und in der experimentellen Verwertung seiner Produkte in meiner Küche.

Es gab einen Moment in meinem damals noch gar nicht sonderlich gärtnerischen Leben, in dem ich innehielt und gründlicher nachzudenken begann. Dieser kathartische Moment der Erkenntnis hält bis heute an. Er hat vieles beeinflusst. Er senkte sich über mich, als eine energiedurchpulste holländische Tomatenmarketingdame mir eben eine raffinerieartige Anlage mit allerlei Schläuchen und Computerterminals erklärte, die für die Nährstoffzusammensetzung der Bewässerung der Tomaten im angeschlossenen Glashaus zuständig war.

Dort hingen Tomatenproduzentinnen für die ganze Welt an langen Seilen: Sorgfältig angebunden, die Wurzeln in einem Glaswollesubstrat versenkt, mit allerlei Schläuchen am Leben gehalten, von eigens für diesen Zweck gezüchteten Hummelvölkern in Kunststoffquaderbehausungen bestäubt. In mir keimte eine Art Intensivstationsgefühl auf, gemischt mit ein wenig Sci-Fi-Furcht. Wir haben eine Welt geschaffen, in der die Tomaten rund um den Globus fliegen, in der wir Europäer zu Weihnachten Kirschen essen, während im Herbst die Äpfel auf unseren Wiesen verrotten. Das Grauen! Das Grauen!

Ich will keine Tomaten essen, die dafür gezüchtet wurden, wochenlang haltbar zu sein. Ich will auch meinen ökologischen Fußabdruck nicht mit Gewalt vergrößern. Ich ziehe die Tomaten, die ich esse, selbst oder kaufe die, die aus meiner Umgebung stammen. Frisch im Sommer, eingekocht und eingemacht im Winter. Ich schöpfe aus dem unglaublichen Angebot an Sorten, ich bade nachgerade in Tomatenvielfalt. Ich genieße sie, wenn sie da ist. Und jedes Jahr freue ich mich auf die neue frische Ernte.

Als ich einem meiner verfressensten Lieblingsgäste dann die ersten selbst gezogenen, selbst getrockneten und in Olivenöl eingelegten knisterig-knusprigen Tomatenscheibchen auf gerösteter Focaccia servierte, riss der die Augen auf und sagte: “Ich habe ganz vergessen gehabt, wie Tomaten schmecken können!”
Auch wenn Sie glauben, bar jeden gärtnerischen Talents zu sein: Versuchen Sie das Tomatenziehen. Wenn Sie einen sonnigen regengeschützten Platz haben, wird es gelingen, und Sie werden den Unterschied zwischen gelagerten und frischen Tomaten, vor allem aber die aromatischen Unterschiede der hunderten zur Verfügung stehenden Sorten zu genießen lernen.

Da diese Empfindung nicht allein mir vorbehalten war, hat die Tomate einen Trend beschleunigt, der höchst begrüßenswert ist: Die Rückkehr der Sortenvielfalt im Gemüse- und Obstgarten beginnt gerade erst. Wir steuern auf Großartiges zu. Wir lernen, das zu schätzen, was schon da war.

Denn Großartiges war immer da. Man muss sich nur bücken oder strecken, um es zu ernten und zu genießen. Ich darf beispielsweise mit Fug und Recht behaupten, der Sauerampfer sei der wilde Salat meiner Kindheit gewesen, denn da ich mich ständig an den Ufern von Bächen und Fischteichen herumtrieb, statt sittsam hinter Büchern zu sitzen oder mit den Utensilien einer behüteten Kindheit zu spielen, war er stets zur Hand. Ich muss Unmengen an Sauerampfer in mich hineingestopft haben damals, und nie wurde mir schlecht davon. Wahrscheinlich, weil ich auch genug anderes Zeug fraß, das auf den Wiesen herumlag und am Wegesrand wuchs. Ich war abgehärtet.

Der Sauerampfer war, neben den säuerlichen Äpfeln, den Himbeeren und den Brombeeren das Beste. Lange Zeit ging er mir wirklich ab. Denn irgend wann erreicht man dummerweise ein Alter, in dem man keine Muße mehr hat, stundenlang an Forellenwassern zu sitzen, den Bienen zuzuhören, die Wasser in ihr Nest eintragenden Hornissen zu beobachten, wie sie kleine, sich lautlos kreisförmig ausbreitende Tüpfel in das Teichwasser stechen. Man erreicht eine Phase, in der man, statt Dämme zu bauen und nebenbei Sauerampfer zu mampfen, in stickigen Büros hockt zum Zwecke des Geldverdienens.

Das ist prinzipiell ein Fehler und dem grundlegenden Thema Genuss zuwiderlaufend, jedoch an dieser Stelle unmöglich im Detail aufzulösen. Außerdem wissen Sie sowieso, was ich meine. Eines wunderbaren Tages aber wurde ich für die ampferlose Zeit entschädigt: Ich entdeckte in einem Gartenbaugeschäft zwei kultivierte Formen des Ampfers. Ich erwarb sie augenblicklich und trug sie in kleinen Töpfen zu mir nach Hause, wo ich sogleich ein wie in alten Zeiten mit dem Daumennagel abgezwicktes Blatt des Gartensauerampfers Rumex acetosa var. hortensis in meinen Mund stopfte.

Nicht schlecht. Nicht ganz so säuerlich, wie die schmäleren, härteren und wesentlich kleineren Blätter des wilden Sauerampfers, jedoch überraschend authentisch im Geschmack. Der zweite Ampfer war ein Blutampfer Rumex sanguineus – sehr schön anzuschauen mit seinen dunkelroten Blattadern auf hellgrünen Blättern. Der schmeckte auch nicht übel, ein wenig härter zwar und nicht ganz so säuerlich, aber ebenfalls nicht unaromatisch. Zwischenzeitlich weiß ich, dass ich unbedingt noch den Römischen oder Französischen Schildampfer Rumex scutatus probieren muss, und dass auch der Gemüseampfer oder Ewige Spinat Rumex patienta meiner Verkostung harrt. Herrlich, diese Ampfervielfalt meiner mittleren Jahre.

Selbstgemachtes Sauerampfer-Pesto von Ute Woltron:
1 Büschel Sauerampfer
1 Handvoll Pinienkerne
etwas Pecorino
Olivenöl
Ein Büschel Sauerampfer (von der Wiese) ohne die Mittelrippe nicht zu fein hacken. Auf keinen Fall im Cutter niedermixen. Eine Handvoll Pinienkerne bräunlich rösten, hacken und alten Pecorino dazureiben. Alles mit einem guten Olivenöl mischen.

99genüsseZur Person: Die Journalistin und Autorin Ute Woltron ist eine begeisterte Selber­macherin, gut, dass sie endlich nicht nur ihr gärtnerisches Know-how, sondern auch ihr kuli­na­risches Wissen mit uns teilt. In ihrem Buch 99 Genüsse, die man nicht kaufen kann erklärt sie uns, wie man Löwenzahnhonig und Lieb­stöckelpesto herstellt, aber auch, warum man das unbedingt tun sollte. Beschenken wir uns selbst, indem wir uns ­wieder Zeit nehmen für die wahren Genüsse des Lebens. Und verschenken Sie dann die Früchte dieser gut genützen Lebenszeit: Denn wer wäre nicht glücklich über ein Fläschchen köstlichen Zitronenverbenenlikörs oder ein Gläschen himmlischer Schlehenmarmelade.: “Es gibt viele Genüsse, die man kaufen kann. Manche davon aber kann man, nein, muss man selber machen!”

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