Im Angesicht der Scham


Bild: Pixabay

Von Johanna Kreuzheck. Solange ich denken kann, gibt es eine treue Begleiterin in meinem Leben, die all die Jahre nie von meiner Seite gewichen ist… meine Scham.

Auch wenn sie nicht immerzu sichtbar und spürbar war, so war sie doch allzeit präsent und ich konnte nie sicher sein, wann sie das nächste Mal aus ihrem Versteck springt. Und wenn ich auf mein Leben zurückblicke, kam dies oft vor… sehr oft! In manchen Phasen meines Lebens war sie wie ein unangenehmer Dauergast an meiner Seite! Manchmal brachte sie in Bruchteilen von Sekunden mein Blut zum Kochen und mein Gesicht zum Glühen, ein anderes Mal legte sie sich wie eine dunkle schwere Decke über mich und blieb dort lange Zeit.

Sie war schon an meiner Seite, noch bevor ich das Licht der Welt erblickte. Als viertes Kind, das eigentlich gar nicht vorgesehen war, bin ich schon mit dieser Scham in dieses Erdenleben gekommen: Mit dem Gefühl, nicht gewollt, nicht gewünscht zu sein. Habe ich dann überhaupt eine (Existenz)Berechtigung, hier zu sein?

Geliebt und Willkommen sein

Und dann hatte mir das Leben, wie zum Trost, die wundervollste Mama geschenkt, die ich mir hätte wünschen können. Eine tiefe Liebe verband und verbindet uns bis heute und bei ihr hatte ich das Gefühl, geliebt, willkommen und richtig zu sein. Als sie mit 36 Jahren an Krebs starb, ist ein Teil von mir mit ihr gestorben und die kleine Johanna schämte sich Zeit ihres Lebens dafür, dass sie ihre Mama nicht hatte retten können.

Seit dieser Zeit wich die Scham nicht mehr von meiner Seite und fand immer neue Möglichkeiten und Gelegenheiten sich ungefragt auf die Bühne meines Lebens zu stellen. Ich schämte mich dafür, keine Mama (mehr) zu haben. Ich schämte mich, zu viel zu sein. Ich schämte mich, (zu) still zu sein. Ich schämte mich, traurig zu sein. Ich schämt mich, fröhlich zu sein. Ich schämte mich, lebendig zu sein. Ich schämte mich, nicht richtig zu sein. Ich schämte mich, so zu sein, wie ich bin. Ich schämte mich für meine Scham… Ich könnte ein ganzen Buch damit füllen, wofür ich mich im Laufe meines Lebens geschämt habe! Und was habe ich alles unternommen, um diese, meine Scham vor anderen zu verbergen, sie irgendwie wegzumachen, klein zu halten… ein mehr als aussichtsloses Unterfangen!

Und heute Morgen geschah etwas magisches. Da war es wieder, dieses mir so vertraute Wesen… meine Scham. Und auf einmal hörte ich in mir diesen Satz:
Es gibt nichts, aber auch gar nichts, wofür du dich schämen müsstet!

Dieser Satz richtete etwas in mir auf. Und so stellte ich mich innerlich mit einem gewissen Abstand diesem Wesen gegenüber, so dass ich es gut sehen konnte und sah es an, sah es einfach nur an. Von Angesicht zu Angesicht standen wir da und ich sah ein gruseliges Wesen mit vielen Köpfen und unzähligen Armen, wie Tentakeln und Augen, die mich furchteinflößend anstarrten. In jeder ihrer Hände hielt sie eine Waffe und da war alles an Waffen dabei, was man sich nur vorstellen kann. Ein schauriger Anblick.

Und je länger ich hinschaute, sah ich auch etwas angstvolles, hilfloses und verzweifeltes, das dieses Wesen ausstrahlte. Ich stand da und schaute hin mit offenem Herzen, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu wollen oder zu erwarten. Und nach einer Weile veränderte sich etwas, als würde das Wesen schmilzen. All die vielen Köpfe und Arme fielen in sich zusammen und verdichteten sich zu einer Kugel, die erst dunkel und dann immer heller wurde, bis sie so hell war, dass ich fast geblendet war von diesem Licht.

Lange stand ich einfach nur da und badete in diesem wundervollen Licht, sog es mit jeder Faser meines Körpers auf, wie die ersten Sonnenstrahlen nach einem langen nicht enden wollenden Winter. Ich spürte, dass dieses Licht immer da war und als hätte es sich all die Jahre getarnt und versteckt und aus Angst davor, vernichtet, getötet, ausgeschlossen und verbannt zu werden, hatte es immer wieder andere und neue Gestalten angenommen und konnte so im Verborgenen überleben.

Ich sehe dieses Licht so kraftvoll und klar und spüre, dass es noch immer das selbe Wesen ist wie zuvor, nur in einer anderen Gestalt. Es ist meine Kraftquelle… meine UrQuelle.

Johanna Kreuzheck ist ganzheitlicher Coach in Düsseldorf. Mehr hier.

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13 Kommentare zu “Im Angesicht der Scham

  1. Alexandra Thoese sagt:

    Liebe Johanna,
    wie gut ich dieses Wesen kenne und wieviel Liebe in ihr geborgen ist. Danke für diese berührende Erfahrung die du mit uns teilst ❤🙏❤

  2. Paloma sagt:

    Liebe Johanna,

    du sprichst mir aus dem Herzen, aus der Seele, aus den mittlerweile geheilten, integrierten und noch abgespaltenen wunderschönen Anteilen in mir – meinem wahren Selbst – sprichst mir aus dem Leid und aus der Freude.

    Ich lese deinen Text und mir kullern die Tränen, so sehr ist die Scham auch meine Begleiterin und ich erkenne mich in deiner Geschichte.

    Möge es gelingen, jede der vielen Tentakeln zu erlösen und zu wandeln.

    Dir einen Herzdank

  3. Sybille sagt:

    Liebe Johanna ,
    Danke von Herzen für diese Geschichte!!!!Wie gut, dass du stehen bleiben konntest und diese Erfahrung mit uns teilst.
    von herzen Sybille

  4. Liebe Johanna!
    Hab von Herzen Dank für das Teilen dieser Erfahrung! Ja, es ist magisch, wenn wir uns trauen hinzuschauen und „den Moment“ auszuhalten … und so wertvoll zu erfahren, was sich verändert, wenn wir den Gefühlen wie Scham, Trauer, Wut und Angst – und sie haben ja noch einige „Geschwister“ – erlauben, einfach zu sein, um uns zu erzählen, was sie in unser Leben gebracht hat.
    Wundervoll und magisch ist es, wenn sie sich wandeln, dahinschmelzen … uns die lichte Seite zeigen.

    Ich bin froh um den Mut hinzuschauen und auszuhalten … immer wieder neu!

    Euch allen von Herzen Dank für euer da-sein und teilen!!!
    Viel Segen für euch und die, die euch am Herzen liegen …

    Herzensgrüße
    Imke

    • Liebe Imke!
      Genau so empfinde ich es auch! Und all die „Geschwister“ sind mir ebenso vertraut und entdecke immer mehr, die Schätze und Wunder, die darin verborgen sind!
      Herzensgrüße und allen Segen für dich!
      Johanna

  5. Von Herzen gerne, liebe Sybille!

  6. Michaela Thimet sagt:

    Liebe Johanna,
    Danke für das Teilen deines schönen Erlebnisses. Ich kenne diese Scham in all den beschriebenen Facetten: ich habe mich immer für alles geschämt, was mit mir zu tun hatte. Also eigentlich habe ich mich für mich selbst geschämt. Das Schlimmste war, dass ich es lange als normal empfunden habe mich für mich selbst zu schämen.
    Heute nehme ich dieses Gefühl und umarme es, und nehme die Ängstlichkeit wahr, bis es sich auch manchmal zur Kraft entwickelt.
    Ich umarme dich von ganzem Herzen liebe Johanna und freue mich mit dir.
    Viele liebe und Scham-lose 😉 Grüße,
    Michaela

  7. Danke, liebe Michaela, für deine Worte und deine scham-losen Grüße!😉
    Scham-lose Grüße von Herzen zu dir! ❤️
    Johanna

  8. Elisabeth Meyer-Siemon sagt:

    Liebe Johanna,

    ich stehe gerade auch innerlich vor diesem unbegreiflichen Wesen namens Scham. Jeden Tag zeigt es sich gerade. Ich kann noch nichts klar erkennen, aber ich fühle sehr deutlich die Last.

    Dir möchte ich einfach DANKE sagen, dass du dich hier damit zeigst. Das macht mir Mut und gibt mir Zuversicht, weiter hinzugucken und diesen Teil in mir zu heilen und zu reifen.

    Herzengruß, Elisabeth

    • Liebe Elisabeth!

      Ja, sich gegenseitig Mut machen und Zuversicht schenken, weiter hinzugucken und sich mit allen ‚Wesen‘ zu zeigen… das ist so unendlich heilsam und befreiend!

      Herzensgrüße und DANKE auch an dich!
      Johanna

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