Mein Patenkind

Ich habe eine Patentochter. Sie ist 22 Jahre alt. Sie hat das Haar und die Haut einer Prinzessin. Ihre Augen strahlen wie Sterne am Himmelszelt. Und wenn sie lacht, geht immer die Sonne auf. Sie spricht zwei Sprachen auf Muttersprachenniveau. Sie hat viele besondere Leidenschaften und Talente. Meine Patentochter ist z.B. eine Künstlerin der Worte und schreibt Science Fiction Romane. Das verbindet uns beide natürlich ganz besonders :-). Ihre Leidenschaft gilt außerdem den Hunden dieser Erde. Und in den letzten Jahren hat sie sich zu einer außergewöhnlichen Hundeflüsterin entwickelt. Die kleinen Promenadenmischungen ihrer Nachbarn, die sie seit Jahren hütet, und von denen niemand jemals glaubte, dass sie zu irgendetwas im Stande sein könnten als Fressen, Schlafen, Wedeln und Bellen, sind in ihrer liebevollen und achtsamen Begleitung zu absoluten Alleskönnern aufgestiegen. Eine kleine Hündin, von der ihr Herrchen sogar behauptet, sie sei dumm, gewann sogar jüngst ein Agility Tournier.

Der Traum meiner Patentochter ist es, einen eigenen Hund zu haben. Die für sie passende Züchterin hat sie bereits sorgfältig ausgewählt. Denn alles, was sie tut, erhält Sorgfalt. Und mit ihrem eigenen Hund will sie Agility machen und internationale Turniere gewinnen. Ich bin sicher, es wird ihr gelingen. Sie kann so ziemlich alles, was sie sich vornimmt. Selbst in den Bereichen, die ihr gar nicht liegen, kommt sie dennoch immer irgendwie durch. Und ich brauche Euch nicht zu sagen, was geschieht, wenn Ihr etwas wirklich liegt. Dann ist sie in ihrem Genius. So wie bei den Hunden.

Außerdem hat sie einen grünen Daumen. Die Tomaten, Gurken, Zwiebeln und Möhren, die sie für mich über den letzten Winter gesetzt hat, wachsen und gedeihen in meinen Beeten und erfreuen mich jeden Tag. Meine Patentochter ist ein Sprach- und Schreibtalent. Sie ist eine Künstlerin in vielerlei Handarbeiten. Sie gießt herrlich kreative Kerzen aus Wachsresten. Sie strickt gerade eine Patchworkdecke aus lauter minikleinen Einzelquadraten. Sie kann wunderbar kochen. Sie ist unfassbar mutig. Sie hat richtig gute Freunde, die mit ihr Pferde stehlen würden. Und sie hat ein riesiges Herz für Tiere.

In ihrer beruflichen Ausbildung ist sie zurzeit in der Abschlussprüfung. Gestern verlief eine Prüfung, vor der sie Angst hatte, ganz und gar nicht so, wie sie es sich gewünscht hatte. Weil es um Themen ging, die sie weder liebt noch beherrscht. Sie ist gerade super enttäuscht und traurig. Dabei ist ihr Abschluss nicht gefährdet. Sie wird ihn bekommen. Und sie weiß noch nicht, dass diese Prüfungsergebnisse völlig egal für ihr Leben sind. Ihr Leben wird ein glückliches und erfülltes sein. Sie wird ihren Leidenschaften nachgehen. Sie wird glückliche Beziehungen führen. Und sie wird immer weniger das tun, was nichts mit ihrem Herzen und ihrem Seelenweg zu tun hat.

Und sie wird auf Lehrer treffen, die das, was sie tun, mit Leidenschaft tun, und ihre Schüler dadurch ebenfalls dazu inspirieren können, es auf ihre ganz eigene Weise und auf inspirierende Weise zu tun. Und diese Weise wird voller Kraft und Schönheit sein und sie selbst und andere Menschen auf immer neue Arten bereichern.

Dies ist ein Text für mein Patenkind und für alle jungen Frauen und Männer. Vertraut Euch. Lasst Euch nicht beirren. Schon gar nicht von denen, die das, was sie tun, ganz offensichtlich nicht mit Leidenschaft, in Freude, Gesundheit und Schönheit tun. Haltet Euch an das, was Ihr tief in Euch wisst. An das, was Euch wirklich Freude macht und was Euch begeistert. Diese Begeisterung ist Euer Kompass. Und liebe Eltern und Großeltern, bitte vertraut Euren Kindern und Enkeln. Sie kennen ihren Weg. Sie brauchen nichts als Euer Vertrauen und Eure liebenden Augen, die im klaren Wissen um ihre Einzigartigkeit und ihren Genius auf sie schauen. Das sind ihre Wurzeln. Und sie brauchen Eure Begeisterung an Eurem eigenen Leben und an dem, was ihr im Leben tut und lebt. Das sind ihre Flügel.

End of Story.

Eure Kinder

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran
(* 06.01.1883, † 10.04.1931)