Geschwisterliebe

Lesezeit 2 Minuten –

Wir waren uns sehr nah, meine große Schwester und ich. Die Nähe begann schon mit unseren Geburtstagen, ich habe ihr nur 15 Monate Vorsprung gelassen. Unser Dorf war sehr klein, es lebten dort nur noch zwei Brüder, die unsere Spielkameraden waren. Die enge Beziehung bestand bis in unsere Studienzeiten und Berufsanfänge hinein. 
„Blut ist dicker als Wasser“, sagte sie einmal tröstend zu mir, als mein damaliger Freund mir ganz plötzlich den Laufpass gab.
„Blut ist dicker als Wasser.“ Das klingt für mich wie ein Versprechen. Wie ein „Ich bin da für Dich“.
Vor kurzem habe ich sie um Hilfe gebeten. Sie hat nein gesagt. Ich war vollkommen schockiert, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Hand in Hand mit dem Schock kamen der Schmerz, die Traurigkeit und die Tränen. 
Das Schwierigste an der Traurigkeit ist immer der Schmerz, der sich so überwältigend anfühlt. Ich wollte ihn dringend weghaben, diesen Schmerz. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich den Schmerz in lodernde Wut umwandelte, dann in das befriedigende Gefühl des Beziehungsabbruchs – „Die kann mich mal“, anschließend in Hochmut und Verachtung – “wie erbärmlich…“, in Selbstgerechtigkeit – „wie egoistisch…“, und schließlich Selbstmitleid. Blut ist doch nicht dicker als Wasser.
Tagelang bewegte ich mich auf dieser Gefühlsklaviatur und egal welchen Gedanken ich hatte, ausnahmslos war er Ausdruck eines dieser „Ersatzgefühle“. 
Das Schöne an den Ersatzgefühlen ist, dass sie nicht schmerzen. Im Gegenteil, sie sind ein hervorragendes Ventil. Wut, Selbstgerechtigkeit, Hochmut – sie sind so herrlich entlastend. Dennoch haben sie einen entscheidenden Nachteil: Sie halten mich in einer Endlosschleife gefangen. Und maskieren die Traurigkeit, die ja trotzdem noch da ist.

Was tun? Heute Morgen in meiner stillen Zeit stand es in großen Lettern vor meinem inneren Auge: MITGEFÜHL.

„Mitgefühl? Boah, echt jetzt?“ war die spontane Reaktion des Anteils in mir, der immer noch für die gemeine Schwester bedauert werden wollte.

Ein anderer Teil wusste intuitiv „Das ist es. Das ist der Schlüssel“.

Ich sehe Dich, Schwester. Ich sehe Dich, Mensch. Ich erkenne Dich. Sie konnte sich nicht anders entscheiden. 
Es geschah ein Wunder: Mein Herz wurde weich und weit. In mir breitete sich tiefer Frieden aus. Es tut auch immer noch ein bisschen weh, doch in diesem Mitgefühl kann ich auch Trost für mich selbst empfinden.

„Es tut auch immer noch ein bisschen weh, doch in diesem Mitgefühl kann ich auch Trost für mich selbst empfinden.“
So ganz nebenbei zeigt sich hier ein geistiges Grundprinzip: Ich sende auf Gedanken reisend einem anderen Menschen ein Gefühl und das Gefühl kann nicht anders, es wirkt auch in mir.
Insofern ist der Ausdruck von Mitgefühl anderen gegenüber auch immer ein Akt der Liebe uns selbst gegenüber. Wir ernten, was wir säen.

Danke Schwesterherz!

Sharing is caring 🧡
Nadine Waller
Nadine Waller

Nadine Waller ist Mitglied des newslichter next level Teams, Lebens-Liebhaberin, Achtsamkeitstrainerin, Visionärin und Autorin. www.frei-geist-coaching.de

15 Kommentare

  1. Liebe Nadine!
    Hab Dank für dein Teilen dieses wichtigen und manchmal schmerzhaften Prozesses des Sehens und Mitfühlens. ❤️
    Wie unterschiedlich Familie als „Bubble“ doch sein kann: Meine Schwester (7 Jahre älter als ich) habe ich erst nach langem Ziehen und Zerren sehen und (mit)fühlen können … Sie war, seit ich denken kann, eine „typische“ Erstgeborene, die meine Brüder und mich beschützen und leider oft genug auch erziehen wollte. Warum sie diese Rolle, die mich immer getriggert hat, so extrem eingenommen hatte, ist mir vor einiger Zeit mit der Aufarbeitung unserer Familiengeschichte klargeworden.
    Vom Verstehen zum Mitfühlen und loslassen können war es dann aber noch ein längerer Prozess.
    Mit dem Tod unserer Mutter vor einem Jahr konnten wir beide plötzlich unserer Rollen als „die Große und die Kleinste“ endgültig ablegen.
    Seitdem ist ein entspannteres einander sehen und lassen können möglich.
    Dafür bin ich sehr dankbar 🙏

    Herzensgrüße
    Imke

    • Liebe Imke, vielen Dank für DEIN Teilen ;o) und ja, es ist schmerzhaft. Bis zu dem Punkt, an dem wir springen. Über unseren Schatten.
      Herzensgrüße, Nadine

    • Das finde ich jetzt sehr interessant, denn das dreht ja die Bedeutung komplett um.

      „Das Blut des Bündnisses ist dicker als das Wasser der Gebärmutter.“

      Es wird ein Pakt mit anderen Menschen über die Blutsverwandschaft der Familie gestellt und heutzutage wird der Spruch genau gegenteilig verwendet!
      Wieder mal ein schönes Beispiel für all die Verdrehungen, die wir in der Welt haben, von Dingen und Aussagen, von denen wir den Ursprung gar nicht mehr kennen.

      • Dank an euch beide, Nandalee und Gudrun – eben taucht in mir dies auf: dass die Ursprungsbedeutung dieser Worte womöglich war, zu bekräftigen, dass das geschlossene Bündnis (durch Blut gekennzeichnet eines geschlachteten Tieres) NOCH dicker sein soll als die so sehr hohe Verbundenheit durch Verwandtschaft. Und das ist mir ein Zugang, der mich als Gedankenblitz grad freut … Denn ich lese es dann nicht als Gegensatzpaar, sondern als eine Steigerung und Ausdruck von außerordentlich hoher Verbindlichkeit. – Was für eine Entdeckung zu dieser Redewendung und ihres Herkommens dank deines Zurufs, liebe Nandalee. Sprache ist so ein Abenteuer und erzählt in sich selbst so viele Geschichten. Freude!

        • Liebe Miriam, auch Dir vielen Dank für Deine Impulse zu diesem Satz und für das Weiterspinnen des Fadens!
          Alles Liebe, Nadine

      • Liebe Gudrun, vielen Dank für die Übersetzung, die Erläuterung und Deine Gedanken zum Thema. Woher die Verdrehung wohl kommen mag?
        Alles Liebe, Nadine

    • Liebe Nandalee, vielen Dank – ich hatte keine Ahnung vom Ursprung des Satzes. Wie erhellend!
      Alles Liebe, Nadine

  2. Liebe Nadine
    Ich kann dir so gut nachfühlen!
    Diesen Sommer hab ich einen riesen Schock mit meinem älteren Bruder erlebt, der so tief ging, dass mein Körper heftig darauf reagiert hat und in wilder Aufruhr war.
    Langsam beruhigt es sich etwas und ich kann erahnen, dass er mir eine Trauma-Reaktion gezeigt hatte, die ich bisher nicht von ihm gekannt hatte. (Ich merke gerade, dass sich das „er“ auf den Bruder und meinen Körper bezieht)
    Der anfängliche Schock weicht dem Mitgefühl. Für ihn und für mich.

    Du hast das sehr stimmig beschrieben mit den Ersatzgefühlen:

    „Das Schöne an den Ersatzgefühlen ist, dass sie nicht schmerzen. Im Gegenteil, sie sind ein hervorragendes Ventil. Wut, Selbstgerechtigkeit, Hochmut – sie sind so herrlich entlastend. Dennoch haben sie einen entscheidenden Nachteil: Sie halten mich in einer Endlosschleife gefangen. Und maskieren die Traurigkeit, die ja trotzdem noch da ist.“

    Dein Text ermutigt mich, die echten Gefühle wieder zuzulassen, danke!

    • Liebe Nadine, dank dir für dein innwendig erlebtes Teilen. Dein genaues Beobachten und die dir zufließenden Einsichten. Michelle hat deins eben genau zitiert in den Worten und dem Absatz, der auch mir darin so golden wertvoll ist. Dank dir für all dies! Herzensgrüße

      • Liebe Miriam, ich danke Dir, das auch Du einen Platz am Feuer einnimmst.
        „Das innwendig Erlebte teilen“ -so eine schöne Beschreibung.
        Unsere Geschichten am Feuer erzählen und Erfahrungen teilen ist Herzensnahrung erster Güte.
        Liebsten Dank an Christine, Imke, Nandalee, Gudrun, Michelle und Miriam für Euer mit mir sein am Feuer. Bis zum nächsten Mal!
        Alles Liebe, Nadine

    • Liebe Michelle, ich freue mich, dass Du trotz des Schocks eine Möglichkeit gefunden hast, einen anderen Blickwinkel auf das Geschehene einzunehmen. Es gehört eine gewisse Fähigkeit zur Großzügigkeit dazu, überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass es hier um ganz andere Dinge geht als den vordergründigen Konflikt.
      Wie schön das Du Dich nun mit den echten Gefühlen auf eine Tasse Tee treffen möchtest.
      ich wünsche Dir von Herzen heilsame Begegnungen.
      Alles Liebe,
      Nadine

  3. ….mmmmm….“Geschwisteliebe“ nehm ich mir mit in die neue Woche…..denn morgen wäre der ErdenGeburtstag meines vertsorbenen, jüngeren Bruders……ich will mir ehrlich eingestehen, wo ich noch KonflikteSchmerz, welcher auch aus „Ersatzgefühlen“ bestehen mag, in mir trage…..welchen ich wandeln mag in einem persönlichen Ritual hin zu einer endgültigen Würdigung unserer Geschwisterbeziehung und der Anerkennung unserer geteilten Schätze im FamilienVerbund…..DANKE 💕 🥰 , liebe Nadine, für Dein offenherziges Teilen und Dein dadurch feines Ermutigen….

    Uns allen eine heilsame „Ahnen*innenZeit“ und ein angenehmes Eintreten in die WinterRuhe….
    Von Herzen,
    Dagmar

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