Leben im Übergang

Von Mike Kauschke. In einem Interview mit evolve prägte der Bildungsforscher Zak Stein den Begriff, dass wir in einer Zeit zwischen den Welten leben – »a time between worlds«. Dieser Ausdruck stieß bei uns in der Redaktion, bei Freunden, denen ich davon erzählte, und den evolve Salons, die jeder Ausgabe des Magazins folgen, auf eine tiefe Resonanz.
In dieser Aussage ist ein Empfinden angesprochen, dass viele Menschen derzeit kennen: Eine alte Welt kommt an ihr Ende, wenn Bekanntes, Gewohntes, Sicheres erlischt. Aber die neue Welt ist noch nicht entstanden. Wir suchen nach den Werten, Lebensformen, dem Umgang mit uns selbst, miteinander und mit der lebendigen Welt, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden. Es scheint, dass eine Lebensform, die sich auf grenzenloses materielles Wachstum, auf Wettbewerb, Konkurrenz und Trennung voneinander und der Natur gründet, schlicht nicht überlebensfähig ist. Dass dem so ist, sehen immer mehr Menschen, aber es herrscht häufig Ratlosigkeit, was zu tun ist. Wir befinden uns in einem Zwischenbereich und sind aufgerufen, uns darin zu orientieren und am Entstehen, an der Emergenz des Neuen mitzuwirken. Aber wie?
Vielleicht ist gerade deshalb die Poesie heute so wichtig, denn sie kennt sich aus mit den Zwischenräumen. Dichtung verlässt die sicheren, gewohnten, bekannten Wege des Erkennens und Sprechens und lauscht hinaus in neue Formen des Seins und Gestaltens. Sie sucht zwischen dem Gewussten nach neuen Einsichten, sie ergründet den Raum zwischen den Menschen, zwischen uns und dem Lebendigen. Sie fahndet zwischen unterschiedlichen Weisen, die Welt zu sehen und darin zu handeln, nach neuen Seinsweisen, die Antwort geben können auf eine Zeit, die sich sucht.
Weil wir das Gewohnte loslassen und das Neue noch nicht kennen, sind Zwischenzeiten immer mit sehr widersprüchlichen Emotionen verbunden. Wir spüren Trauer über den Verlust des Bekannten, die Angst vor dem Unbekannten, doch auch die Kreativität, die in diesem Raum der Neugestaltung möglich wird, die Vorfreude auf das Mögliche. Die Dichtung ist eine Form des Sprechens, die diesen vielen Gefühlen immer schon einen lebendigen Ausdruck gab. Gerade auch Zeiten des Umbruchs rufen die Poesie in eine neue Blüte. Denken wir nur an die Zeit der Frühromantik und Klassik um 1800, als die alte Welt, die von den christlichen Kirchen beherrscht wurde, zugrunde ging und eine neue Welt noch nicht geboren war. Es gab die ersten Anzeichen einer Revolution des freien Individuums und der wissenschaftlichen Erkundung der Natur. Aber genauso gab es die poetischen Durchbrüche hin zu einer tieferen schöpferischen Verbundenheit, wie sie die frühromantischen Dichtenden entwarfen. Eine andere Zeit des Aufbruchs – die dann zu einer Zeit des Zusammenbruchs werden sollte – war der Beginn des 20. Jahrhunderts. Der expressionistische Dichter Ernst Stadler fast diese Atmosphäre in seinem Gedicht »Vorfrühling«:
In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus.
Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen.
Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung ging ich weit hinaus
Bis zu dem unbedeckten Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt
entgegen.
In jedem Lufthauch war ein junges Werden ausgespannt.
Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten.
Schon dehnte sich bereitet Acker. In den Horizonten eingebrannt
War schon die Bläue hoher Morgenstunden, die ins Weite führen sollten.
Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen.
Überm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen,
In deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen.
In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen.
Ich erlebte eine solche vielschichtige Übergangszeit nach dem Fall der Mauer 1989. Ich zog damals nach Berlin, das von der Kraft des Zwischenraums bebte. In mir und vielen Menschen aus dem Osten war die Freude spürbar, dass etwas nicht für möglich Gehaltenes nun tatsächlich geschehen war. Der Horizont der Zukunft schien sich weit zu öffnen. Doch schon bald gab es auch Empfindungen der Trauer über eine Lebensform, die für immer verloren und vergangen war und auch ihre wertvollen Seiten gehabt hatte. Zudem wurden schnell die Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Neuanfang im Osten enttäuscht, der nicht lediglich eine Übernahme durch den Westen bedeuten würde. In diesem Schmelztiegel von Gefühlen begann eine unbändige schöpferische Energie zu pulsieren, die Berlin bis heute erfüllt. Viele Menschen aus der ganzen Welt wurden und werden von dieser Energie angezogen. Vielleicht auch deshalb, weil es die Stadt zwischen den Zeiten geblieben ist und durch diese Atmosphäre einen Raum des Experimentierens bietet. Hier werden auch die unterschiedlichsten Formen einer möglichen neuen Welt erprobt. Mit Versuchen und Scheitern.
Wir leben heute wieder in einer wilden, einer unsicheren Zeit. Die bisherigen Formen des Seins, Handelns und Entscheidens werden brüchig, wirken nicht mehr angemessen. Ein neues In-der-Welt-Sein ist aber noch nicht völlig in Erscheinung getreten. Noch nicht ausgeformt. Wir leben in einer Zeit, die man auch als initiatisch bezeichnen kann. Im Prozess transformativer Übergänge – Initiationen –, wie sie in indigenen Kulturen praktiziert werden, gibt es drei Phasen: Die erste besteht im Abschied von der alten Seinsweise, was oft auch einen Prozess des Trauerns umfasst. Manchmal erlebe ich eine solche Trauer in Hinblick auf eine Welt, die nicht mehr ist. Eine Welt, in der uns zum Beispiel noch nicht die digitale Realität in Cyberräume geführt hat, die uns auch vom Wirklichen entfremden können. Die zweite Phase ist der Raum der Ungewissheit, in der das Alte schon vergangen, aber das Neue noch nicht vollends spürbar ist. Diese Phase muss ausgehalten und belebt werden, damit in der dritten Phase etwas wirklich Neues entstehen kann, das nicht nur eine verkleidete Weiterführung des Alten ist. In dieser Phase des Dazwischen befinden wir uns derzeit, und vor diesem Hintergrund werden auch die Verwerfungen und Konflikte der Gegenwart verständlicher. Wir alle befinden uns individuell mehr oder weniger bewusst in diesem Übergang – und wir als Gesellschaft ebenso. Es ist eine unübersichtliche, wilde Zeit, die gekennzeichnet ist, von Gefühlen der Trauer über den Verlust des Gewohnten, doch auch angesichts der Zerstörung des Lebendigen im Menschen, in den Beziehungen und im Sein mit der Erde. Gleichzeitig erwächst eine Hoffnung auf eine neue Welt, die wir in uns schon spüren und imaginieren können. Eine Welt, die geboren werden will. Durch uns. In die wir hineinleben können und dürfen. An der wir schöpferisch mitwirken. Indem wir uns in diesen wilden Zwischenraum begeben und uns der Unsicherheit aussetzen. In dieser Verletzlichkeit werden wir vielleicht so lebenswach, dass wir die Samen des Neuen erspüren können.
Mike Kauschke ist Redaktionsleiter des evolve Magazins, Autor, Dichter, Fotograf, Übersetzer und Dialogbegleiter im „emergent dialogue“.
Bücher:
Im Gespräch mit der lebendigen Welt – Poetische Wege zu einem schöpferischen und sinnerfüllten Sein
https://mike-kauschke.de/buecher/auf-der-suche-nach-der-verlorenen-welt/