Generation „De“ – Zeitalter des Loslassens

blumeJapan hat Erfolg und Grenzen des materiellen Wachstums besonders drastisch erlebt. Eine konstruktive Konsequenz dieser Erfahrung ist die Generation „De“. Christine Ax im Gespräch mit Junko Edahiro.

Christine Ax: Junko, du sprichst und schreibst neuerdings über eine Generation „De“. Was meinst du damit?

Junko Edahiro: Wir beobachten seit längerem eine Entwicklung in der japanischen Gesellschaft, die ich mit drei Begriffen charakterisiere, die mit «De-» beginnen: De-ownership, De-materialization, De-monetization. Darum spreche ich vom Zeitalter des «De-». Die Silbe «De» hat mit Loslassen zu tun. Das erste «De» betrifft den Besitz. Der Trend geht vom Besitzen zum Teilen. Japanische Autohändler versuchen verzweifelt, jungen Leuten Autos zu verkaufen, aber diese entscheiden sich immer öfter dafür, ein Auto zu teilen. Ein Auto zu besitzen ist uncool.

Das zweite «De» betrifft die Beziehung zu materiellen Gütern und Konsum. Wir beobachten eine Dematerialisierung des Glücks. Anstatt zu konsumieren, suchen und finden immer mehr junge JapanerInnen ihr Glück in Beziehungen zu anderen, in der Natur und im Einklang mit sich selbst.

Das dritte «De» hat mit Geld zu tun. Viele Menschen suchen inzwischen ihr Glück jenseits der geldgetriebenen Strukturen. Ich denke zum Beispiel an den neuen «Halb-Farmer/Halb-X»-Lebensstil, der in Japan wachsende Beliebtheit geniesst.

Warum ist das so?

Die «De»-Generation arbeitet nicht besonders gerne für Geld. Es ist ihnen nicht wichtig. Sie haben kein Interesse daran, Karriere in einem Unternehmen zu machen. Sie klettern lieber auf eine Leiter und ernten Äpfel. Sie haben erlebt, wie ihre Eltern hart für ökonomischen Erfolg, Wirtschaftswachstum und Profit von Unternehmen gearbeitet haben. Sie haben gesehen, welch hohen Preis sie dafür bezahlten. Ihre Eltern hatten weder Zeit für sich selbst noch für ein gutes Leben.

Diese Generation hat beobachtet, wie das Wirtschaftswachstum, das im Zentrum der japanischen Gesellschaft stand, vieles zerstört hat. Einsamkeit, Stress, Burnout und andere psychische Probleme sind die bekannten Folgen. Japan hat eine sehr hohe Selbstmordrate, der ländliche Raum blutet aus, es gibt den Klimawandel und einen deutlichen Verlust an Artenvielfalt. Die Generation «De» will den Beweis antreten, dass man persönliches Glück auch anders finden kann – ohne anderen Menschen, Ländern, der Natur und künftigen Generationen Schaden zuzufügen. Sie will einen Lebensstil etablieren, der gut und nachhaltig ist für Menschen und Erde.

Gibt es dafür Beispiele?

Ja. Der damals junge Japaner Naoki Shiomi ist einer von ihnen. Er entschied sich dagegen, sein Leben einem japanischen Unternehmen zu opfern, um eine Familie zu ernähren. Es musste einen sinnvolleren Lebensinhalt geben. Shiomi etablierte den Lebensentwurf «Halb-Farmer/Halb-X». Sein Beispiel hat viele JapanerInnen inspiriert. Als Teilzeit-Farmer bearbeiten sie ein Stück Land und produzieren so die Lebensmittel für sich und ihre Familien. Die restliche Zeit tun sie, was sie glücklich macht und ihnen am wichtigsten erscheint. Sie leben ihre Berufung. Mit weniger Einkommen – dafür mehr Zeit für sich, ihre Familien und Freunde. Ich selbst kenne «Halb-Farmer/Halb-Sänger», «Halb-Farmer/Halb-Schriftsteller», «Halb-Farmer/Halb-Umweltaktivisten».

Was erhoffst du für die Zukunft Japans?

Ich hoffe, dass sich immer mehr Menschen fragen, ob ihr Leben nachhaltig ist – und zwar nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere Menschen und den Planeten. Ich hoffe, dass mehr Menschen Teil der «De»-Generation werden und ihren persönlichen «De»-Lebensstil finden. Man spricht heute gerne von Nachhaltigkeit. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass wir nur dann nachhaltig leben können, wenn wir die alten mentalen Muster loslassen und uns auf das konzentrieren, was uns wirklich wichtig ist und uns wirklich gut tut.

RTEmagicC_Japan_Ax-cover_kl_02.jpgHintergrund: Die Psychologin JUNKO EDAHIRO ist eine der wichtigsten Nachhaltigkeitsexpertinnen Japans. Sie ist Geschäftsführerin von Japan for Sustainability (www.japanfs.org) und Präsidentin des «Institute for Studies in Happiness, Economy and Society» (ISHES, www.ishes.org).

Junko Edahiro kommt auch im neusten Buch von Christine Ax, «Reise ins Land der untergehenden Sonne – Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft», ausführlich zu Wort. (Edition Zeitpunkt, 2014. 80 S. Fr. 12.50/EUR 10.-, www.christineax.de)

Japans Bevölkerung schrumpft und altert. ­Gleichzeitig will, ja, muss das Land der aufgehenden Sonne ­wirtschaftlich wachsen – die Quadratur des Kreises. Die Philosophin  und Nachhaltigkeitsforscherin Christine Ax nimmt Sie mit auf die Reise in ein Land, das zehn Jahre tiefer in einem Problem steckt, das den übrigen Ländern des Westens erst noch bevorsteht.

Sie zeigt, wie die bisherigen Lösungen – Konjunktur­programme und billiges Geld – noch nie die ­gewünschten Effekte erzielten, sondern nur die nächste Krise ­vorbereiteten. Japan verstehen heisst, uns selber in zehn Jahren zu ­verstehen und den einzigen wahren Reichtum zu ­erkennen: das Leben.

 

 

 

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