Ein Yoghurt wie aus dem Märchen

Als der Psychologe Cristóbal Colón vor mehr als 35 Jahren La Fageda ersann, verstand er nichts von Wirtschaft und schon gar nichts von Milchwirtschaft. „Ich wusste nur eines: Ich wollte die Menschen aus den Anstalten rausholen und ihnen eine sinnvolle Arbeit verschaffen. Denn Arbeit ist eine gute Lebenshilfe – sie trägt zur Selbstachtung und zur Selbstentwicklung bei“.

Heute ist La Fageda mit einem Umsatz von 20 Millionen Euro der zweitgrößte Joghurtproduzent Kataloniens. Hier werden 300 Personen beschäftigt, davon über die 70 Prozent mit psychischer Behinderung. Nicht alle können „normal“ arbeiten, deshalb sind die Aufgaben und Weiterbildungen an ihre Fähigkeiten angepasst. Arbeitsplätze gibt es in der Gärtnerei und in der Baumschule, vor allem aber in der Milchverarbeitung.

Als Cristóbal Colón (Jahrgang 1949) in den achtziger Jahren nach Katalonien kommt, hat er bereits zehn Jahre Dienst in psychiatrischen Kliniken in Saragossa hinter sich. Geboren und aufgewachsen ist er in Zuera, einem Dorf in der Provinz Aragonien. Sein Vater stirbt früh, darum zieht der Junge mit 14 Jahren nach Saragossa, um in der Schneiderei seines Onkels sein Brot zu verdienen. Während des Studiums lernt er die Österreicher Sigmund Freud und Viktor Frankl (den Begründer der Logotherapie) kennen. Als Psychologe in psychiatrischen Anstalten beobachtet er mit wachsender Besorgnis, wie Eintönigkeit und Untätigkeit die Patienten und Patientinnen bis hin zu totaler Passivität lähmen. Das Heilmittel dagegen sieht er in der Arbeit. Und zwar nicht in sinnlosen Beschäftigungen, sondern in einem richtigen, bezahlten, wirtschaftlich Job, der auch die Persönlichkeit und die brachliegenden Fähigkeiten entwickelt. Und das am besten auf dem Land, fernab von grossstädtischer Hektik.

Olot liegt auf dem Land. 150 km entfernt von Barcelona in den katalanischen Pyrenäen. 1982 wird das Gebiet zum Nationalpark. Hier wächst ein riesiger, für die mediterrane Vegetation vollkommen untypischer Buchenwald: Fageda d’en Jordà.

Cristóbal Colón spricht beim Bürgermeister vor. Der Psychologe trägt Bart, langes Haar und hat diesen komischen Namen. Er hat keine konkrete Geschäftsidee und kann kein Katalanisch. Und sagt diesen Satz, der inzwischen legendär ist: „Ich komme aus einer Irrenanstalt und möchte zusammen mit 14 Leuten von dort ein Unternehmen gründen“.

Irgendwie überzeugt er den Bürgermeister. 1982 gründet Cristóbal Colón mit Mitstreitern eine Genossenschaft. Sie nennen sie La Fageda, „Der Buchenwald“. Die ersten Auftragsarbeiten sind leichte Nähereien, in der Art von gestickten Heiligenbildern. Als die Genossenschaft 1984 durch gesammelt Spenden den Hof Els Casals erwerben kann, 15 Hektar, im Herzen des Nationalparks gelegen, werden Kühe gekauft. Eine lange Such- und Versuchsphase beginnt. 1993 beschliessen die Genossenschafter, sich auf Milcherzeugnisse zu konzentrieren. Ein verrückter Entschluss! Milch ist heikel zu verarbeiten, es braucht teure Maschinen und eine ausgeklügelte Logistik für die Belieferung des Marktes, der überdies von den Branchenriesen Danone und Nestlé dominiert wird. Doch der Joghurt vom Lande setzt sich durch. Die ersten Großkunden sind andere soziale Einrichtungen. Als sich der Trend von natürlich produzierten, regionalen Lebensmitteln verstärkt, gewinnen sie Marktanteile.

Aber auch La Fageda musste sich anpassen und brauchte zunehmend gut ausgebildete Profis. Deshalb haben sich zur Ur-Genossenschaft zwei Stiftungen gesellt: die Stiftung SAG (Servicio de Asistencia de la Garrotxa), die die nichtkommerziellen Beschäftigungen verantwortet, und die Stiftung Sentido, die Dienstleistungen wie Buchhaltung, Personalwesen, Kommunikation usw. für den ganzen Betrieb übernimmt:

La-Fageda-Joghurts sind sehr beliebt. Dabei verzichtet das Unternehmen auf Werbung, um die Mitarbeitenden keiner Kommerzialisierung auszusetzen. Dafür profitiert die Genossenschaft vom Nationalpark, der jährlich von über 30‘000 Personen besucht wird. Viele von ihnen besuchen eine Betriebsbesichtung zu der auch eine Degustation gehört. Cristóbal Colón ist felsenfest überzeugt, dass niemand seine Joghurts aus Mitleid mit Behinderten kauft. Die Millionen gehen weg, weil sie so gut schmecken. Selbstverständlich sind es „die besten der Welt“, sagt er. Hier zur Webseite.

Quellen: Blog mit Leidenschaft und aktueller Artikel aus der brandeins Heft4/2017 „Eine verrückte Geschichte“.

2016 wurde eine Dokumentation Yoghurt Utopia gedreht. Hier der Trailer.:

Yoghurt Utopia Toronto from Anna Thomson on Vimeo.

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2 Kommentare zu “Ein Yoghurt wie aus dem Märchen
  1. Ferdinand sagt:

    Eine sehr bewegende Geschichte und ein tolles Projekt. Ich dachte dabei an die vielen Gastarbeiter aus der Provinz Girona die in den 50/60er Jahr in der von meinem Vater geleiteten Molkerei-Betrieb gearbeitet haben. Wie sehr hätten Sie mit Ihren Kenntnissen diesem Startup helfen können.

  2. Pauli2010 sagt:

    Für mich ist das keine durchweg positive Geschichte – Milchprodukte bedeuten Tierleid.

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