Eine Ode an den November

elbeabendVon Willi Näf. «Ein eigenartiger Tag», hatte Dr. Hagelstern am Morgen gemurmelt, als er den Wecker abdrehte. Psychologen haben ein feines Gespür. Er sollte Recht behalten. Punkt halb zehn führte seine Assistentin ihm einen neuen Patienten in die Praxis, den Herrn Monat November.

Dr. Hagelstern schluckte. «Ich muss sagen», meinte er, «Sie sind der erste Monat, der bei mir Rat holt.» «Danke, Sie sind meine einzige Hoffnung», sagte Herr November. «Mein Kummer ist: Niemand liebt mich.» Leise begann Herr November zu weinen.

Dr. Hagelstern hielt Herrn Novembers schwach belaubte Hand. «Wie kommen Sie zu dieser Annahme?» «Ich bin wertlos», schüttete Herr November sein Herz aus. «Jeder Monat hat einen Höhepunkt, ein Fest, einen Feiertag, Ferien, irgendwas, worauf sich die Menschen freuen. Im Oktober die Herbstferien, im Dezember Advent und Weihnachten. Und ich? Nichts. Ich bin auch zwischen die Sportsaison gefallen. Stattdessen kaltes Hudelwetter.» Herr November schluchzte. Die Assistentin servierte heißen Tee.

«Ich hätte gerne etwas, das mich auszeichnet.» «Sind Sie nicht der Monat der Stille? Der Monat, in dem die Philosophie blüht? Die Literatur am Kaminfeuer? Sie könnten der Monat sein, der den Menschen Zeit gibt für das, was sie zu tun lieben. Zeit zum Sein. Zuständig für die Lebens-Zeit».

Herr November war glücklich, bedankte sich und ging hinaus in den Nieselregen.

Dr. Hagelstern stand am Fenster, nippte lächelnd am Tee und freute sich des Lebens. Er wusste, heuer würde es ein prächtiger November werden!

willinaefWilli Naef schreibt über sich selbst: „Ich kam 1969 ziemlich auf die Welt und begann angesichts des vermummten Arztes zu schreien. Dann nahm ich eine Kindheit als Ausserrhödler Bauernbub in Angriff. Dann eine Kochlehre. Dann, 1990, das wahre Leben als Schreiber. Storytelling ist Teil meiner DNA.“ Und das macht er sehr gut. Mehr über den Geistschreiber auf seiner Website

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5 Kommentare zu “Eine Ode an den November
  1. Claudia sagt:

    Eine wunderbare, kleine Geschichte- danke!!
    Also ich liebe den November sehr: ich werde langsamer, gehe immer mehr nach innen und nehme mir zwischendurch Zeit, mir Gutes zu tun mit Tee, Duft und liebevollen Streicheleinheiten für Körper & Seele.
    Darüberhinaus ist der November für mich entspannter als der Dezember, weil er (meistens) noch nicht mit Eisglätte aufwartet und ich stressfrei Autofahren kann ;o)

  2. Dagmar Ewert sagt:

    der November hat in anderen Ländern durchaus Feiertage z.B. Guy Fawkes Day in GB oder
    Thanksgiving- das Familienfest überhaupt- in den USA.
    In Deutschland haben wir Allerheiligen und Allerseelen, das scheint der Autor nicht zu kennen, dann den Martinstag.
    Ausserdem sind Sonntage wie Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag für Menschen insbesonders Christen, die den Frieden anstreben oder einen geliebten Menschen in dem jeweiligen Jahr verloren haben, durchaus von Bedeutung!
    Als würden nur die lauten, kommerzialisierten Feste zählen…

    In diesem Sinne genießt die ruhigen Tage mit Spaziergängen in der sich zurückziehenden Natur.

  3. Der November ist für mich der Monat, der mich einlädt, mich auf meine Wurzeln zu besinnen und mit meinen Ahninnen und Ahnen zu verbinden. Mit dem Jahreskreisfest „Samhain“ gehen wir vom 31. Oktober auf den 01. November in diesen Monat. Im Christentum kennen wir die Feiertage von Allerheiligen und Allerseelen. Es ist der Monat, der mich einlädt, nach innen zu schauen und Danke zu sagen an die, die vor mir gegangen sind. Ihrer zu gedenken und auch meiner eigenen Sterblichkeit.

    Herzlich,
    Sabrina

  4. hannerose sagt:

    die geschichte inspiriert zum nachdenken.
    im november mit seinen grauen,nassen,kühlen bis kalten tagen beginnt für mich die „drinnenzeit“. in der warmen stube mit duftlämpchen, kerzenlicht, warmem tee und guter literatur gestalte ich mir wohlgefühl.
    auch das sitzen drinnen vorm fenster, in den garten schauen und nicht bemerken, wie der blick langsam leer wird, nach innen schaut, in unendliche weiten.
    ich liebe ihn, den november und überhaupt die kommende zeit. wunderbare entschleunigung breitet sich aus.

  5. Astrid sagt:

    Ich liebe den November, weil er so ruhig ist, eben ohne laute Feiertage. Er ermöglicht mir ohne schlechtes Gewissen (sonst: draußen ist das Wetter schön, ich müsste eigentlich raus) eingemummelt auf dem Sofa zu sitzen, über das Leben nachzudenken, ein Buch zu lesen, vor mich hinzusinnieren. Welcher Monat bietet das schon?

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