Worte der Weisheit – Judith Kerrs Erzählen vom Lebensrat ihres Vaters

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Als junges Mädchen entdeckte ich den 1973 frisch erschienen autobiografischen Roman von Judith Kerr „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Mit Erscheinen las ich später auch die beiden Folgebände „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“.

Fünf Jahrzehnte später wird mir nun durch eine zufällig ins Leben geratende englische Taschenbuchausgabe bewusst: die in Berlin geborene Judith Kerr, die Heimat fürs Leben in Großbritannien fand, schrieb diese drei Romane nicht auf Deutsch, ihrer Muttersprache. Sondern in der Sprache ihrer rettenden neuen Heimat auf Englisch. Auch wird mir erst jetzt deutlich, dass es sich schon bei Band II ihrer stark autobiografisch geprägten Romane keineswegs um ein Kinder- oder Jugendbuch handelte. Wie es das Erscheinen sowohl der englischen wie der deutschen Ausgaben in entsprechenden Verlagen hatte annehmen lassen.

Nun las ich also als Erwachsene Judith Kerrs Roman „The Other Way Round“. Ganz neu. Als hätte ich dieses Buch nicht schon einmal, als junges Mädchen in der deutschen Übersetzung gelesen.

Was mich tief berührte und ich hier teilen möchte, ist ein Augenblick während des Blitz-Kriegs auf London, in dem Judith Kerrs jung erwachsene Protagonistin Anne hochfiebrig ist und sie ihren betagten Vater danach fragt, wie er all die hohe Not seit seiner Flucht in der Lage ist zu ertragen.

Ihr Vater, DER deutsche Theaterkritiker, mit dem Tod bedroht und jetzt im Exil schon seit Jahren fast ohne jeden Auftrag: wie schwer muss für ihn der Verlust der Muttersprache sein. Wie schwer müssen der Verlust der alten Kontakte, die ständigen Geldnot und all die übringen notvollen Bedingungen für die Familie im London des Blitz-Krieges wiegen. Wie nur ist es ihm möglich, das alles zu ertragen?

„Da gibts einen Teil von mir,“ sagte er bedacht, „ziemlich getrennt vom Rest, wie ein kleiner Mensch, der in meiner Stirn sitzt. Und was auch immer geschieht, er beobachtet einfach. Auch wenn es etwas Schreckliches ist. Er nimmt wahr, was ich fühle, was ich sage, ob ich schreien will, ob meine Hände zittern – und er sagt, wie interessant! Wie interessant zu wissen, dass es sich so anfühlt.“

„Ja,“ sagte Anne. Sie wusste, dass sie auch einen kleinen Menschen wie Papas hatte, aber ihr Kopf drehte sich und sie stellte ihn sich, leicht verwirrt, im Kreis drehend vor.

„Es ist ein großer Schutz vor Verzweiflung,“ sagte Papa.

Innerlich lächle ich Alfred Kerr zu. Dem Menschen, der durch diese literarischen Zeilen hindurch scheint. Mir schenkt dieser eine, scheinbar so kleine Absatz aus Judith Kerrs Buch das staunende Wahrnehmen von Worten großer Weisheit. Der Ausdruck einer tiefen Einsicht und Lebenspraxis, die sich so auch in vielen Weisheitstraditionen finden lässt, die mir in meinem Leben überaus wertvoll wurde. Die Beobachterin in mir zu genießen, die frei von Bewertung einfach wahr-nimmt, was ich von Augenblick zu Augenblick denke, fühle, spüre. Das wurde ein hilfreicher Raum des Gewahrseins in meinem Dasein, seit ich zu dieser Perspektive inspiriert wurde.

In jedem Augenblick unseres Lebens liegt darin die kostbare Möglichkeit, aus bewegender Erfahrung für einen Moment auszusteigen. Und schlicht wahrzunehmen, was gerade in uns lebendig ist. Betrachtend aus dem Raum reiner Beobachtung.

Möge dieser Weg uns ermöglichen, dass uns jedes Erleben zu einem Gold Nugget werde für unser stetig wachsendes Seelenwissen. Für unsere Weisheit. Möge dieser Weg uns in schwierigen Zeiten vor Verzweiflung behüten. Mögen diese Praxis unser Wissen bereichern über unser Mensch Sein. Auf eben genau die Art, in der wir lebendig sind. Im Hier und Jetzt.

……………………….

Das Zitat wurde der englischen Taschenbuchausgabe „The Other Way Round“ von Judith Kerr von 1977 entnommen und sinngemäß ins Deutsche übertragen.

Zum Hintergrund des Zitats: In den Kriegsjahren des Blitz-Krieges und danach lebte die in Berlin geborene Judith Kerr als Tochter von Alfred und Julia Kerr mit ihren Eltern und ihrem Bruder in London. Die Familie hatte sich vor den Nazis retten können. Zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich und schließlich nach England.

Mehr zu Judith Kerr hier.

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4 Kommentare zu “Worte der Weisheit – Judith Kerrs Erzählen vom Lebensrat ihres Vaters
  1. Carola sagt:

    Danke, liebe Miriam, ich kenne das Buch auch, habe es als Kind von meiner Mutter zu lesen bekommen. Auch andere Bücher wie Anne Frank etc. Und in meinem Inneren formte sich sich seitje her die Frage: Wie können Menschen als das Aushalten? mit einem Gefühl von Ohnmacht und großer Überforderung. Deine Textbetrachtung hilt mir gerade sehr.

    Von Herz zu Herz
    Von mir zu dir.
    Alles Liebe
    Carola

  2. Katrin sagt:

    Ich habe die Bücher ebenfalls im Übergang von Kindheit zur Jugend gelesen. Teil 1 als Schullektüre, die anderen beiden Teile habe ich mir dann zusätzlich gewünscht weil mich das Buch so tief beeindruckt hatte.
    Als dann vor ein paar Jahren die Verfilmung entstand, wollte ich den Film nicht schauen, aus Sorge, dass diese intensive Erinnerung an die Romane irgendwie Schäden nehmen könnte.
    Vor kurzem habe ich ihn dann doch gesehen und fand ihn wunderbar.
    Das Zitat hier in dem Beitrag ist auch ganz wunderbar und spiegelt hervorragend die Weisheit und Kraft dieses Mannes.
    ❤️-lichen Dank für die Erinnerung.

  3. Gisela Minz sagt:

    Liebe Miriam,
    vielen Dank für diese lebensbejahenden und wertvollen Gedanken.
    Herzliche Grüße
    Gisela

  4. Evelin sagt:

    Liebe Miriam, ein Juwel, das Du hier hervorhebst. Auch ich durfte und darf davon kosten, danke Dir von Herzen. Zusätzlich zur Dissoziation aus der polaren 3D-Welt heraus, die die emotionslose, offene Weisheit uns hier schenkt, ist für mich auch immer wieder wichtig und lebensrettend: Meine brennende Liebe, meine ganz und gar verkörperte Freude an diesem irdischen Sein, die mir erlaubt, durch die Schatten dieser Welt zu gehen und mir den Weg in die lichten Gefilde weist.

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