Lebensbruch und Lebenssinn

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Bums. Kaputt. Nicht mehr zu retten. „Einfach liegenlassen, wir kehren das gleich auf“, sagt die Kellnerin müde. Halt rufe ich – die Scherben sind kostbar. Wenn wir sie zusammensetzen, entsteht etwas Neues, das unschätzbar schön ist. Wir können darüber erzählen, wenn wir wollen.

Es sind die Lebensbrüche, um die es geht, wenn wir unser Leben erzählen oder darüber schreiben. Hier scheint das Licht durch. Hier wird es kostbar – wie im Kintsugi (darüber haben die newslichter z.B. hier schon geschrieben) sind es die Brüche, die ein Leben zur Besonderheit machen, nicht das glatte Porzellan. Vergoldet und liebevoll zusammengesetzt, wird eine gebrochene Schale zum Juwel. Nicht verschämt und heimlich geflickt – schau, sieht wieder aus wie vorher. NEIN – mit Stolz tragen diese Kunstwerke ihre Brüche zur Schau und strahlen in ihrer Einzigartigkeit, die von Zerbrechlichkeit und Ewigkeit gleichermaßen berichtet.

Wir können das auch!

Wir können in unserer Zerbrechlichkeit einzigartig sein und unsere Brüche selbstbewusst zeigen. Schauen wir auf scheinbare Fehlentscheidungen, Irrwege und Patzer, die wir uns innerhalb dieses Wachstumsprozesses leisten, der Leben genannt wird. Erst sie machen uns zu der Kostbarkeit, die wir sind. Eine vielzitierte Aussage von Thomas Edison lautet sinngemäß, dass er bei der Erfindung der Glühbirne niemals versagt habe, sondern 80.000-mal gelernt habe. Genau das ist es. Wir sind hier, um zu lernen. Oder noch besser – wir sind hier, damit das Leben durch uns lernt. Natürlich können wir versuchen, uns dieser Lernaufgabe zu verweigern und auf unsere Brüche verweisen – schau, ich bin kaputt, nicht mehr einsatzfähig. Ich bin hochsensibel, ich bin traumatisiert, ich bin … Was auch immer das für Geschichten sind, die wir uns und anderen über uns erzählen und wie sehr diese Geschichten auch stimmen mögen und in ihrer Einzigartigkeit gewertschätzt, betrauert und letztlich auch in die Lebensgestaltung einbezogen werden dürfen: Letztlich ist die Opferrolle auch eine Entscheidung, die Auswirkungen haben wird. Sowohl im Tun als auch im Nicht-Tun liegt die Gestaltungskraft unseres Ich.

Vorbilder sind lebendig

Bist du eine Heldin? Ein Held? Nein, sagst du, ganz bestimmt nicht. Und du lachst. Ich lache auch und erwidere: Doch! Ganz bestimmt bist du es. Denn du hast ein einzigartiges Leben gelebt und du hast es gemeistert. Du bist trotz – nein, falsch – du bist wegen all der erlebten Krisen, Rückschläge und Katastrophen gewachsen und zu der fantastischen Person geworden, die du jetzt gerade bist. Du bist ein Held, eine Heldin, und du hast eine Reise hinter dir, von der andere Menschen lernen können.

Solche wie dich brauchen wir gerade unbedingt, denn die Leader:innen dieser Zeit sind ganz normale Menschen, die beherzt ihre Ängste und Zweifel, ihr Straucheln, Schämen, Fallen und Wiederaufstehen mit uns teilen. Persönliche Wendepunkte, Krankheiten, durchlebte Krisen, Todesfälle – es scheint mutig oder sogar wagemutig, sich diesen Themen anzunähern und dann auch noch öffentlich, schreibend. Genau dieser Wagemut ist es, der die Gemeinschaft wachsen lässt. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde Menschen, die immer wissen wo´s langgeht, zum Gähnen langweilig. Solche, die den Überblick haben, deren Hals davon ganz lang geworden ist und die Augen starr. Wenn ich perfekt geschminkten Frauen zuhöre, die schon „mehrere siebenstellige Business gegründet haben“ (was auch immer das ist), dann wird mir ganz schwummerig, dann höre ich: „Ich kann es. Du kannst es nicht. Kauf jetzt diesen Kurs, dann kannst du es auch.“ Danke, aber nein danke. Ich brauche keine Vorausgeher:innen, die mich hinter sich herzerren – auf ihrem Weg, zu meinem Besten. Ich möchte Vorbilder haben, die ganz klar und eindeutig zu Vorbildern taugen, weil sie Menschen sind. Weil sie neben und nicht über mir stehen. Solche wie die buddhistische Nonne Pema Chödrön, die Meditation, Gleichmut und Bewusstheit seit vielen Jahrzehnten lebt und lehrt. UND belustigt von einem Wutanfall berichtet, der sie kürzlich türenschlagend davonrauschen ließ. (Ich glaube, es war in diesem Video. So klar, so eindeutig und so menschlich. Das macht Mut und Freude, oder?

Lebendigkeit ist „mega-in“

Unsere aktuelle Zeitqualität scheint perfekt für Fortschritt und Evolution. Wir wollen unsere Angst nicht mehr ignorieren, genauso wenig wie unsere Freude. Wir merken, dass Glück in den Momenten greifbar scheint, in denen die Akzeptanz des Lebensflusses vollständig ist. Und es tut so gut, ist so erleichternd zu sehen: Anderen geht es auch so. Ich bin nicht allein. Wir möchten uns identifizieren und sehen, wie andere mit den Untiefen, Strudeln, Wellen und Felsen des Lebens umgehen. Gerade, wer eine Krankheit, einen Todesfall erlebt hat oder sich vom Schicksal gebeutelt fühlt, sucht häufig Identifikationsmöglichkeiten. Solche Möglichkeiten entstehen (auch), wenn wir biografisch schreiben. Deswegen ist dieser Text eine unbedingte Einladung, dich deiner Geschichte schreibend anzunähern, vielleicht aus deinen Lebensbrüchen ihre Einzigartig herauszuarbeiten. Es gibt in diesem Kontext ein besonderes Buch-Genre, das zunehmend Beachtung findet – ein „Memoir“ ist ein lebenserzählendes Sachbuch. Im Gegensatz zur klassischen Biografie bildet es kein ganzes Leben ab, sondern fokussiert sich auf die – womit wir wieder beim Anfang dieses Beitrags wären – Lebensbrüche, auf einschneidende Erlebnisse oder wiederkehrende Leitmotive. Bücher, die auf diese Art entstehen, zeigen eine ganz persönliche Entwicklung im Umgang mit besonderen Lebenssituationen. Kennt Ihr Beispiele für solche Bücher – dann schreibt mir gerne (oder teilt Euer Wissen in den Kommentaren). Viele Interessent:innen möchten von mir Beispiele für das Genre Memoir und würde gerne mal die Kraft der newslicher einsetzen, um Fülle zu generieren. Und vielleicht ist sogar ein Buchtipp für uns dabei!

Andrea

Andrea Goffart ist Autorin und Schreibcoach und verschenkt (nicht nur) zu Weihnachten am liebsten Schreibimpulse. Zum Beispiel in ihrem monatlichen Newsletter FEDERFLUSS (hier abonnieren) oder im gleichnamigen Buch, dass hier beim Verlag angesehen und bestellt werden kann.

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9 Kommentare zu “Lebensbruch und Lebenssinn
  1. Liebe Andrea!
    WOW, danke fürs „abholen“.

    Ich bin gerade in der letzten Phase meines „Memoires“ und erlebe zeitgleich zu diesem wundervollen Ereignis Bruch um Bruch – gnadenvolle Erinnerungen daran, was Leben ist. Und ich bin sehr sehr dankbar, auch durch deinen Text wieder daran erinnert zu werden, dass es sein darf.

    Danke dafür und von Herzen alles Gute
    Imke

    • Liebe Imke, ich freue mich sehr über deinen Kommentar. Ist es nicht schön, dass die Newslichter so etwas möglich machen? Wir dürfen uns gegenseitig erinnern, ermutigen und bereichern. Und ich bin sehr gespannt auf dein Memoir! Herzlich, Andrea

  2. Paula sagt:

    Ein kleiner Sinn meines Lebens besteht darin, mich für das “sowohl als auch“ einzusetzen und ich fühle mich durch meine bisherigen Erfahrungen als Heldin meines Lebens. „Erfahrung nennt man die Summe all unserer Irrtümer“. T.A.Edison. Die „LeaderInnen“ dürfen für mich Menschen jeder Couleur sein. Die, die wissen, wo es langgeht, die Vorangehenden, die Langhälsigen, die perfekt Geschminkten uvvm.. Alle Teile des Ganzen. Und Kaufanregungen im Optimierungsmodus sind auch in spirituellen Kreisen absolut präsent und stünden mir zur Verfügung, ebenso meine Wahl. „Gottes Zoo ist bunt“, sagte mir mal ein bekannter Künstler. Alles zusammen -für mich- ein großes Kintsugi, die daseienden „sowohl als auch“ Teile, mit feinen Vergoldungen zusammengefügt. Schön anzusehen wenn alles EINFACH sein und ich diese Buntheit betrachten darf. Schöne Grüße, Paula -Kintsugi:-)).
    „Die Dinge sind so schlecht und so gut, wie sie einem scheinen“. Pema Chödrön

    • Danke für diese Gedanken!

    • Liebe Paula – von Herzen Dank für deinen Hinweis auf das allem zugrunde liegende Sowohl-als-auch, zu dem ich mich z.b. hier (https://www.andrea-goffart.de/2023/10/einladung-in-den-raum-des-sowohl-als-auch) bekenne. Ich glaube, wie du (wenn ich dich richtig verstehe), dass jeder Beitrag zum universellen Sein wichtig ist und ALLE gemeinsam – alle Menschen, Meinungen, Standpunkte und Erfahrungen gemeinsam die Netzknoten des tantrischen Netzes bilden. Und wenn ich (also ICH) mich für ein (momentanes) Ziel entscheide, dann suche ich mir eine/n Leader:in aus, die/der mir für die Erreichung dieses Zieles passend erscheint. Und wer weiß, vielleicht bin ich irgendwann an einer Weggablung, an der ich fesstelle, dass Leader:innen immer nur ihren Weg kennen, aber nie meinen? Herzlich, Andrea

  3. Lia sagt:

    Ich möchte auch den tragischen Heldinnen hier gerade etwas Raum geben. Die Reisen von Heldinnen, auch unserer Zeit tragen viele Farben. Angeregt durch den wunderbaren Blogartikel zur Schwelle von Giannina Wedde (https://www.klanggebet.de/2023/12/31/an-der-schwelle-zum-neuen-jahr-lernen-beweglich-zu-sein/)…es ist gerade auch die Verletzlichkeit, die in diesen Zeiten heldenhaft ist, wenn wir uns einfach tief als Mensch zeigen und uns darin erfahren…

    • Liebe Lia, ich lese gerade „In winterweißer Stille“ von Giannina Wedde zum wiederholten Mal und danke dir SEHR für den Hinweis auf die Webseite, die ich bisher noch nicht kannte. Genau – es ist (auch) die offene Verletzlichkeit und das Nicht-Wissen, die uns zu Held:innen machen – weil wir Menschsein GANZ leben und erleben. DANKE! Andrea

  4. Paula sagt:

    Mir gefällt „finden“ besser als „suchen“ und auch hier gilt das „sowohl als auch“. Meine Wege kennen mich schon, bevor ich meinen nächsten Weg erkenne und lösen in mir meine Finden-Neigung aus, sobald ich „bereit“ bin. In Resonanz zu mir lassen sich dann die „richtigen“ Leader:innen, die meinen Weg nicht kennen können, finden, ohne dass ich andere ablehnen muss weil…, „zum Gähnen langweilig“ bis „Ich brauche keine Vorausgeher:innen, die mich hinter sich herzerren“ (deine Worte). Und selbst die scheinbar „Unpassenden“ können sich in manchen Kontexten als sehr „passend“ erweisen… Sowohl bunte als auch herzliche Grüße, Paula.

  5. Iris Stern sagt:

    Liebe Andrea,
    Buchtipp für ein Memoire ist aus meiner Sicht „In meinem Herzen steckt ein Speer“ von Anja Caspari. Mich hat es sehr gefesselt und mir in einer ähnlichen Situation sehr Mut gemacht.

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