Schaukeln
Ich hänge gerade in den Seilen. Nix los. Ich pendle lustlos rum, hier auf meiner Hollywoodschaukel im Garten, schaue mir die Gegend an und weiß nicht so recht weiter. Man könnte mal … ist alles, was mein Hirn gerade hinbekommt.
Am letzten Wochenende war meine Schaukel sehr hochgeschwungen – Höhenflug. Hoher Energieeinsatz, höchster Gewinn an Freude, Bereicherung und Verbundenheit. Dankbarkeit, dass ich mit meinen Schreibräumen so viele wunderbare Menschen zum Lachen, Weinen und Lieben einladen kann und darf. Gestern, am Montag, das Nachspüren – euphorisch. Begeistert. Direkt entstanden Pläne für neue Workshops und Retreats. Sternenschreiben – das wäre doch was? Und heute? Dienstag? Hänge ich rum. Gerade setzt sogar der Sinn des Lebens aus, von dem ich gestern noch so überzeugt war. Ich bin nicht nur kraft-, sondern auch sinnlos, dazu noch entschlusslos, mutlos und was immer es für andere Zustände mit „-los“ gibt – ich habe sie gerade ganz sicher.
Das Bild der Schaukel passt einfach perfekt und es ist – zugegeben – nicht sehr originell. Auf jeden Fall nicht neu. Auf Höhenflug folgt Absenkung, Ruhephase. Stagnation. Energieaufwand ist nötig – Schwung holen, damit es wieder hochgehen kann. Und dann zurück das Ganze. Es geht
Hin und her.
Auf und ab.
Das Leben – genau so ist es!
Mal oben, mal unten.
Pendeln – in die eine Richtung, in die andere.
Genau in der Mitte sind wir selten.
Aber eben da wollen wir immer hin, oder?
Könnte ein Mehr an Lebensfreude entstehen, wenn wir das Schwingen einfach mitmachen und uns im Wissen um dieses aktive Auf und Ab fügen? Uns hingeben und die Idee aufgeben, dass wir die Schaukel zu einer Parkbank machen können? Täten wir das, würden wir sie ihrer Einzigartigkeit und uns aller Lebendigkeit berauben. Dem wunderbaren Schwung, der entsteht, wenn es hoch hinausgeht, mit wehenden Haaren, atemlos und wieder runter, Schwung holen und – jippie – wieder hoch. Alles Lebendige ist Energie, ist zyklisch, schwingt. Auch wir sind Energie und schwingen – zwischen verschiedenen Orten und ihren Anforderungen. Zwischen Arbeit und Alltag, zwischen Alleinsein und Gemeinschaft, zwischen Zustimmung und Missstimmung. Wenn wir mit dem Leben fliegen, schaukeln, dann berühren wir seine Extreme gerade so eben mit der Fingerspitze und dazwischen halten wir uns auf – in komfortablen und manchmal auch in sehr unkomfortablen Zonen des Auf und Ab. Dort wachsen wir. Vielleicht.
Schaukeln oder Pendeln?
Ich glaube, wenn wir das Auf und Ab des Lebens ablehnen, hört das Schaukeln ja trotzdem nicht auf, nur der Widerstand wächst. Und damit der Unmut, der Ärger und ein permanentes Gefühl von „So sollte es nicht sein“. So ist es aber. Zumindest bei mir. Jetzt gerade. Ich hänge – siehe oben – in den Seilen und muss die ganze Zeit daran denken, was meine liebe, viel zu früh verstorbene Freundin Andrea mir vor einigen Jahren einmal erzählt hat. „Wir Hochsensiblen“, sagte sie mir an einem Nachmittag, den wir in ihrer kleinen, von Trauben überrankten Gartenecke verbrachten, „reagieren wie Pendel. Wenn viel los ist, wir viel Einsatz bringen müssen, dann pendelt es auf der einen Seite richtig hoch. Wir sind beflügelt, können alles, schaffen alles, überzeugen und glänzen. Wenn es dann wieder runterschwingt, weil wir zur Ruhe kommen, denken wir, alles wäre gut. Uns geht es gut. Und dann, am nächsten oder übernächsten Tag vielleicht, schwingt das Pendel weiter auf die andere Seite. Totalzusammenbruch. Nix geht mehr. Und erst nach ein bisschen hin und her, irgendwann ist dann wieder ein Ausgleich erreicht, wir fühlen uns im Lot.“
So hatte ich das bis dato noch nie gesehen. Aber ich konnte sehr viel von ihrer Erklärung bei mir wiederfinden. Und jetzt hängt mein Pendel, um im Bild zu bleiben, also gerade im roten Bereich und ich agiere auf Sparflamme. Spare Kräfte. Schreibe ein paar Worte. Trinke viel. Denke wenig. Tue noch weniger. Draußen tolle Sonne – spazieren gehen könnte eine gute Idee sein? Nö. Viel zu anstrengend. Neue Ideen, Projekt, Pläne, Aufgaben stoßen wie kleine Wasserperlen an die Außenseite meines Gehirns, verlangen Einlass, wollen bemerkt, bedacht werden. Werden abgestoßen, prallen zurück: Jetzt nicht! Ruhe.
Anstupsen hilft
Was manchmal hilft (Wenn Hilfe nottut und der Zustand der Antriebslosigkeit nicht einfach genossen werden kann) ist anstupsen. Zarte, sanfte Unterstützung von außen. Ein Lächeln, ein liebes Wort – eine Umarmung. Oder ein typisches Aachener „Och herm, hänste der ärme Dier?“* zur rechten Zeit kann die Schaukel langsam wieder in Schwung bringen. Vielleicht baumelt sie erst mal nur fein und dreht sich ein bisschen nach rechts, nach links. Noch unrund. Irgendwann setze ich dann einen Fuß auf den Boden, stoße mich leicht ab und nehme Schub auf. Weiter geht’s. Mit Freude.
(Anmerkung: Vor einigen Monaten hatte ich das Buch „Schaukeln: Die kleine Kunst der Lebensfreude“ von Wilhelm Schmid gelesen (Insel-Verlag) und mir gedacht, dass ich gerne mal über das Schaukeln schreiben würde. Jetzt war es so weit, ein Dank an den Autoren für die Inspiration!)
*Für alle Nicht-Rheinländer zwei Erklärungen:
https://dat-portal.lvr.de/themen/regional/redewendungen/et-aerme-dier-kriegen
Liebe Andrea,
Danke für´s Anstupsen. So wohltuend, Deine Zeilen!!
Ich hörte, Saturn soll verantwortlich sein, für den „Zusammenbruch“ dieser hohen Welle.
Dank an alle, die so viel Wissen sammeln und es teilen!
Alles ist immer richtig, wie es gerade ist.
Welch wundervolle Erinnerung mir zu erlauben spielerisch schaukelnd in den Tag zu starten auch wenn es sich so anfühlt, als wäre die Luft direkt schon am Morgen raus.
Genau, es braucht ja beides, vor und zurück, schwer und leicht …. um mich ganz lebendig zu fühlen.
Obwohl ich das vom Kopf her weiß, berührt mich diese deine Erinnerung neu.
Wie wurden wir doch angespornt die dunkle, schwere Seite endlich aus unserem Leben und Lieben zu verbannen, um für immer nur noch glücklich, fröhlich, munter … zu sein.
Meine Erlaubnis immer weiter zu schaukeln, zu pendeln, auszupendeln, zur Ruhe zu kommen, juhu 💗
Liebe Andrea, vielen Dank für deinen Anstoß auf meiner Schaukel 🌸
Liebe Andrea,
danke für das Bild der Schaukel und die Worte deiner Freundin, beides hilft mir wohlwollender mit meiner Kraft- und Lustlosigkeit umzugehen.
In den letzten Monate (Wohnungssuche) und Wochen (Umzug) hatte mich total verausgabt. Nachdem die Euphorie (endlich zu Hause) der ersten Tage verflogen war, hadere ich mit meiner Kraft- und Lustlosigkeit.
Dank dir und deiner Zeilen genieße ich nun das langsamere Pendeln. Danke für dieses Bild!
Liebe Andrea,
selbst im Moment ein wenig anders auf (mein) das Leben schauend, könnten deine Worte nicht treffender sein…Das Leben, (ich) wir dürfen es im schaukelnden Tempo genießen, und gerade fühle ich mich abgeholt…Das AUF & AB, es kommt wieder, alles ist gut…
Danke dir für’s Erinnern…
Viola
Liebe Andrea, vielen Dank ans erinnern, das ganze Leben ist ein auf und ab, dem Himmel sei dank, alles ist im Fluss und in der Veränderung , es tut gut daran erinnert zu werden, und dass es jedem so geht, Morgen ist ein neuer Tag 🙏
Hallo liebe Martina, liebe Sabine. Ich fühle mich durch Eure Antworten berührt und bestärkt. Auch hier gibt es wieder die Schaukel, stelle ich gerade fest. Auf der einen Seite schwingt sie zur Idee, für die eigenen Worte, die eigene Meinung einzustehen. Und auf der anderen Seite hat die Schaukel ihren Höhepunkt in der Freude zu berühren, erkannt zu werden und positive Rückmeldungen zu erhalten. DANKE! 🙏
Ganz toller Text, von Herzen Danke. Fühle mich gerade im roten Bereich, den ich als HSP immer nur schwer annehmen kann. Deine Worte ermutigen mich, dass es wie immer nur eine Phase ist … und die geht vorbei. Und ja, so wie es gerade ist, so soll es sein … 🙂
Freude! und ein Detail – das „arme Tier“ gabs für mich als Münchner Kind einer Westerwälder Mutter auch. Es schien hormonell angestiftet zu sein. Doch inzwischen klärte sich für mich, es hat auch HSP Qualitäten. In meinem Leben. Das Ruhigwerden, das Pendeln mehr und mehr gelten zu lassen, mildert die Aufenthalte im k. o. Gang, schenkt Erleichterung. Mildert den Aufenthalt in solchen Phasen – oft verkürzt es ihn auch.
Toller Text, vielen Dank. Genau das hatte ich diese Woche. Der Text hilft mir, mich besser zu verstehen und mit solchen Situation umgehen zu können. Alles ist zu viel. Ich habe mich ein paar Tage krankschreiben lassen und ayurvedisch gekocht. Das nächste Mal werde ich mich in solchen Phasen nicht mehr selber verurteilen, sondern immer wieder liebevoll umarmen.