Kastanien – einfach schön
Glatt, Braun und ganz einfach schön. Die Kastanie ist vollendet in ihrer Einfachheit und doch enthält sie den kompletten Bauplan eines Baumes, in dessen Schatten wir sitzen, um dessen Rund wir tanzen können. Also doch nicht einfach? Eher komplex?
Was ist Einfachheit? Das frage ich unvermittelt meinen Mann, der gerade im Begriff ist, sich zu mir aufs Sofa zu fläzen. „Es nicht so kompliziert machen“ sagt er. „Reduktion,“ fügt er an und dann hält er mir die braunglänzende Kastanie hin, die er mir vom Wanderurlaub im Schwarzwald mitgebracht hat. Gemeinsam überlegen wir – ist Einfach immer einfach oder kann Einfach manchmal ganz schön kompliziert sein? Wenn ich einlade zum Schreiben – einfach so, dann ist das absichtslose Schreiben oft leicht, aber nicht immer einfach und wir lernen, dass auch ein Weg ohne Ziel mit einer Menge Herausforderungen aufwarten kann.
Einfachheit scheint gerade ein Sehnsuchtsort zu sein, so zumindest nehme ich es wahr. Menschen wollen weniger reisen, weniger konsumieren, weniger haben und vielleicht wollen sie auch – manchmal würde ich es mir wünschen – weniger sagen? Alle wesentlichen Antworten sind still, lehrt der Buddha. Und der wusste einiges von Einfachheit, stelle ich mir vor, wenn ich ihn so unter seinem Bodhi-Baum sitzen sehe. Woher kommt diese aktuelle Sehnsucht nach Einfachheit? Kommt sie aus der Fülle – wollen wir weniger, weil wir einsehen, dass wir zu viel haben? Oder entsteht der Wunsch nach Reduktion sogar aus einem Zuwenig – zu wenig Substanz, Wahrhaftigkeit, Sinn, Kontakt …? Ich glaube, dass die Bedeutung von Einfachheit sich massiv verändert, je nachdem, ob wir sie aus dem Mangel oder aus der Fülle heraus denken. Allerdings – wenn wir sie aus der Fülle heraus denken können, dann darf ein Gefühl des „genug“ entstehen.
Ich habe genug. Ich bin genug.
Ich bin satt.
Und rund.
Wie die Kastanie. Es ist alles da, alles angelegt zur Entfaltung, geschützt in einer makellosen Hülle. Ist Einfachheit Perfektion? Wenn wir etwas einfach machen, dann machen wir es nicht mehrfach, dann machen wir es einmal, aber gründlich – durchdacht, solide, mit ganzem Herzen sind wir dabei – egal, was wir machen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit und unser Wollen aus auf das aktuelle Tun – egal, was es ist. Reifen wechseln, Waschmaschine reparieren, Buch schreiben. Wenn wir etwas einfach – ohne Ablenkung – tun, dann wird es gut. Dann wird das „einfach mal machen“ zum einfachen Machen, das allen Ballast abwirft. So ähnlich könnte die Idee eines sinnvollen „Usability-Design“ funktionieren, denke ich gerade mit Blick auf die zunehmende Komplexität (nicht nur) der Technik. Als ich vor Jahren ein Interview mit einem Professor für Produktdesign der RWTH Aachen führte, sagte dieser sinngemäß, dass die Kunst im Design das Weglassen ist, nicht das Hinzufügen. Und doch neigen wir ja alle dazu „mehr“ zu denken, wenn wir „neu“ denken. Oder? Egal, was dieses „neu“ ist, reflexartig fügt es dem Alten etwas hinzu. Was würde passieren, wenn wir etwas wegnehmen, so lange, bis es sich richtig anfühlt? Einfach richtig?
Könnten wir vielleicht sogar mit uns selbst, mit unserem Selbst auf diese Weise verfahren? Einfach alles wegräumen, was uns von Gott oder Göttin trennt, von unserer Seele, von unserem Kern. Bis wir pur sind, frei von allen Rollen, Mustern, Anhaftungen und vor allem frei von der Idee, irgendwie „mehr“ sein zu müssen, weil wir „nicht genug“ sind. Wunschtraum. Wenn es so einfach wäre. Aber man wird ja noch träumen dürfen. Naiv, meinst du? Nun, vielleicht bin ich ja ein bisschen „einfach gestrickt“ und mag diesen ganzen pompösen Ballast nicht mehr. In einer seiner Predigten (Von der Armut) spricht der Mystiker Meister Eckhart über „die Armen des Geistes“ und versucht seine Zuhörer für einen neuen Blick auf Armut zu öffnen – ein armer Mensch sei „wer nichts will und nichts weiß und nicht hat“. Der – so verstehe ich seine weiteren Worte – sich in allem genug ist und versteht, dass es nicht mehr gibt als den gegenwärtigen Moment. (Predigt zum Beispiel hier )
Einfachheit entstünde – so gesehen – aus dem Moment heraus, aus dem Gefühl, dass alles da ist, kein Verstand kann mir das geben. Wenn ich weniger will, weniger mache, weniger sage, dann entsteht aus diesem Weniger ein Mehr, weil ich merke, dass es eigentlich immer schon genug war – insofern ist Einfachheit auch ein Paradox, denn in der Reduktion liegt das tiefe, verkörperte Wissen einer Existenz, die sich selbst genügt. Und die aus ihrem Kern heraus eine echte Verbindung zu den Dingen und den Menschen eingehen kann, die sonst nur in einem unablässigen Flackern an ihr vorüberziehen. Ein Flackern, wie es ausgeht vom unablässig ohne Ton laufenden Fernseher im Nebenzimmer, der es in rote, blaue, gelbe Farbe taucht. Wir schalten ihn einfach mal aus.
Stille. Die Kastanie liegt auf dem Tisch. Einfach schön.
Dieser Text wurde inspiriert von einer E-Mail des „Netzwerk Achtsame Wirtschaft“, das diesen Herbst einige Veranstaltungen und Informationen zum Thema anbietet: „Einfach leben, glücklich leben? Die Kunst des Loslassens – Buddhistische Inspirationen und Übungen“ (www.achtsame-Wirtschaft.de)
Impulse zum Schreiben im monatlichen newsletter von Andrea hier bestellen Newsletter Federfluss.
Oh, liebe Andrea, ich fühle mich wieder von deinen Gedanken und Worten so sehr berührt, bereichert und inspiriert. Wie wundervoll erfühlt, gefunden, formuliert und dadurch verbunden und angebunden.
Einfach so ❤️
Im EINFACHen liegt für mich die Fülle, die Absichtslosigkeit, das Ursprüngliche, das Echte, die Essenz. Darin ist Alles enthalten, es ist Alles und von Allem genug.
Das hat Kraft und trägt.
Einfach so ❤️
In Verbundenheit, Martina
🌰🌰
Ich glaube, der Wunsch vieler Menschen nach Einfachheit entsteht nicht aus der angeblichen (materiellen) Fülle, sondern aus dem Komplizierten, den vielen Reizen im Außen.
Spüre ich meine seelische Fülle und das Verbundensein mit allem, ist mein Leben einfach.
das empfinde ich auch so.
Liebe Andrea,
da hast Du ein vielschichtiges Thema ganz einfach auf das Wesentliche reduziert :o).
Sich auf sich selbst, seine Essenz, zu besinnen, zu fühlen: „Ich bin nicht nur genug, ich bin ein Feuerwerk der Schöpfung“, gehört wohl zu den glückseligsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann.
Ganz herzlichen Dank und liebe Grüße,
Nadine
Ihr Lieben, danke für die Resonanz und eure Gedanken. Ich bin immer ganz gespannt auf die Kommentare zu meinen Artikeln, will wissen, wie ihr sie weiter denkt, welche Resonanz sie erzielen. Ich lasse sie los auf die Welt und ihr nehmt den Ball auf und macht was draus, einfach so. 😉🥰 Gerade fiel mir ein perfekt zum Thema passendes Buch in die Finger, was ich unbedingt noch empfehlen möchte. Es heißt „Das Wenige und das Wesentliche“ und ist von John von Düffel. Eure Andrea
..wie sich die Worte und Sätze so einfach aneinanderreihen- klar und einfach, alles gesagt, auf das Wesentliche reduziert- Dankeschön 🙏🏽❤️🦋