Heißt du etwa Rumpelstilzchen?
Ich habe einen Namen. Du auch. Auch die allermeisten Dinge um uns herum haben Namen – sogar das Metallteil, mit dem wir die Akten im Ordner festklemmen. Das Geben eines Namens scheint wichtig zu sein, um eine Ordnung zu finden. Im Benennen erhalten wir Zugriff auf das Gegenüber – sei es Subjekt oder Objekt. Eine Einordnung erfolgt und wir können uns dann einfacher austauschen. Statt über den Mann zu reden, der immer die Karohemden trägt und laut lacht (“du weißt schon“), können wir über „Karl“ sprechen. Und im Benennen liegt ja auch ein Erkennen – die Wissenschaft benennt Phänomene, um sie zu erforschen. Zuerst ein Name – dann alles Weitere.
Wie bekommen die Dinge eigentlich ihre Namen – welche Beziehung besteht zwischen Welt und Ding – zwischen Namen und Welt? Immer öfter empfinde ich ein Ungenügen in den Namen, eine Begrenzung. Vielleicht – frage ich mich – verbirgt der Name ebenso viel wie er zeigt? Dann würde irgendwo hinter dem Namen erst die Welt beginnen, die Welt des Menschen oder der Pflanze, des Phänomens, der „Krankheit“ vielleicht auch. Nicht im Benennen läge dann das Erkennen, sondern im Einlassen auf das Wesen der Dinge, denn das erschließt der Name uns nicht. Die Eiche in einem Aachener Park, hunderte Jahre alt, ist ein Baum. Der vorwitzige Eschen-Sprössling, der bei uns im Garten seinen Platz trotzig einfordert, ebenso. Sie beide soll ich Baum nennen? Ich kann es nicht (mehr) gut. Zu unterschiedlich scheinen mir die beiden in ihrer Lebendigkeit, Anmut und in ihrer Wesenhaftigkeit. Also bleibe ich ihnen gegenüber stumm, sprachlos. Es ist keine Sprachlosigkeit des Mangels, keine, der die Worte fehlen. Es ist eher eine Sprachlosigkeit der Fülle, der Gewaltigkeit aller Eindrücke, die ich empfange. Diese Wahrnehmungen kann ich einladen, ihre eigene Sprache zu finden – ich lehne mich an den Stamm der Eiche und sende ein „Hallo, du“. Horche, Spüre.
Trotzdem – irgendjemand hat einmal beschlossen, dass die Gattung der Wesen, die im Boden wurzeln und holzig sind, Baum heißen und so können wir dieses sprachliche Symbol nutzen. Auch als Autorin mache ich es so, reihe sprachliche Zeichen hintereinander und hoffe, dass ihr mich versteht. Oft gelingt es – sehr oft nicht. Und vielleicht gelingt es ja genau dann nicht, wenn ich die Wesenhaftigkeit der Phänomene nicht beachtet habe – wenn ich nur Worte aneinander gebaut habe? Worte, denen der Kitt der Lebendigkeit fehlt – leblos in ihrer Reduktion auf Buchstabe und Benennung.
Erkenntnisgewinn
Im Namen liegt Zugang, Verstehen und auch Macht. Mythologisch bedeutet das Benennen oder das Kennen eines Namens, dass man den Zugang zum Sein des anderen erhält – so, wie wir es aus dem Märchen vom Rumpelstilzchen kennen. Die Königstochter nennt nach langer Suche den richtigen Namen und Rumpelstilzchens Macht ist gebrochen – es wird so wütend, dass es sich selbst zerreißt. Aus Sicht der Königstochter ein „gutes Ende“ – weil sie den richtigen Namen gefunden hat, darf sie ihr Kind behalten. Auch wir kennen diese Erleichterung, wenn etwas plötzlich einen Namen bekommt, diffuse Symptome eingeordnet werden können. Wir alle haben sicherlich schon Geschichten von Menschen gehört, die Arzt um Ärztin aufsuchen, um eine Diagnose zu erhalten und glücklich sind, wenn diffuse Symptome plötzlich einen Namen erhalten. Der Name macht uns handlungsfähig. Auch mir ging es vor vielen Jahren so, als ich eines Tages nicht mehr „anstrengend“, „kompliziert“ und „wahrscheinlich depressiv“ war, sondern plötzlich „hochsensibel“. Wie gut tat dieses Wissen, denn im Erkennen entstand die Möglichkeit, mehr über das „Ding“ herauszufinden – mich auszutauschen, einzulesen und dann auch irgendwann einzurichten: Ich bin hochsensibel – respektiere das bitte.
So ist ein Name gleichzeitig Hilfe wie auch Fluch – wenn ich etwas benenne, dann glaube ich, ich würde es kennen. Irgendwann wurde aus der erleichternden Erkenntnis eine Einschränkung, die ich mir selbst auferlegt hatte, ich war ja nun mal hochsensibel. Die Komfortzone wurde immer kleiner. Schließlich hatte ich ein Etikett – ich konnte nicht mehr anders sein. Wir benennen uns und dann passen wir uns an. Ich bin halt so – bin ein Schusselchen, bin die Intelligente in der Familie, bin „rechts“ oder „links“, wie auch immer. Plötzlich reduzieren wir uns und andere Menschen auf Etiketten oder Kategorien und schaffen damit die Voraussetzung für Urteile und Trennung – dann ist der Mensch, dessen Verhalten ich nicht verstehe, ein „Idiot“ und die Idee, die ich nicht umsetzen kann, ist „Unsinn“. So bleiben wir auf der sicheren Seite, denn im Benennen liegt eine imaginiere Grenzziehung, an die wir fest zu glauben beginnen. Wäre es so, dann läge im Nicht-Wissen und im Staunen eine Einladung, diese Grenzen gelegentlich zu überschreiten.
Wohlgemerkt geht es nicht darum, keine Namen zu haben, keine Symbole oder Worte zu verwenden. Wir brauchen sie. Und doch dürfen wir uns immer wieder mit der Wirklichkeit verbinden, denn die Bezeichnung betoniert uns ein im Boden der vermeintlichen Fakten und verhindert die Realität, die immer ein lebendiges Fließen ist. In dieser Realität lädt uns jeder Atemzug ein, die Dinge neu zu finden, uns neu zu er-finden. Und dieses Finden liegt vielleicht genau dort, wo wir sprachlos werden und uns einlassen. Wir lehnen uns an eine Situation, so wie ich es mit der Eiche mache. Wir senden ein leises „Hallo, du?“. Und dann lauschen wir und dann …
PS: Das Metallteil, mit dem wir die Akten im Ordner festklemmen, heißt Tippklemmer
Ein so wundervoller Text, vielen Dank!!! This makes my day. Dinge wahrnehmen, über Bezeichnung und Kategorie hinaus. Sich dadurch selbst ermächtigen und auch andere & andere Wesenheiten frei sein lassen. Tippklemmer – das werde ich mir für immer merken. 🙂
Liebe Iris, die Idee der Selbstermächtigung in VERBINDUNG mit dem Seinlassen finde ich spannend. Danke für deine Worte und diesen Impuls, herzlich, Andrea
….mmmm….liebe Andrea, Deine ausführlichen Ausführung Deiner Gedanken bewegen mich…..hin zu einem Vorgang, der „Dialog“ genannt wird 😀….und ich fühle mich eingeladen, diese Kunst des Austauschens wieder einmal vertiefter zu erforschen….
DANKE ❤️ – Du hast mir einen genial – wichtigen Schreibimpuls für meine *Morgenseiten“ geschenkt !!!!
So schön, von Dir hier zu lesen – ich liebe Deinen Schreibstil !!!!!
Von Herzen in diesen DonnersTag,
Damgar
Liebe Dagmar, der Dialog hat´s in sich – geführt mit anderen und (immer auch) mit sich selbst – genau, die Morgenseiten sind dafür ganz wunderbar. Von Herzen Dank für deine Worte und deine Wertschätzung. Alles Liebe, Andrea
Guten Morgen 🙂
Ich staune gerade und freue mich über deinen tollen Impuls. Dankeschön!
Habt alle einen “ Donnerstag “ <3
Herzliche Grüße
Monika
Liebe Monika,
Danke von Herzen für dein Staunen und ich schließe mich deinem Wunsch an: Habt alle einen tollen Donnerstag! Alles Liebe, Andrea
Liebe Andrea, vielen Dank für den Tippklemmer (ich hatte keine Ahnung!) – und für das Staunen und Nicht-Wissen nach der Benennung (bei vielen Dingen und noch viel mehr Wesen).
Das ist eine wichtige Erinnerung, immer wieder. Und so gut beschrieben, das beides – Benennen und tiefer-rein-lauschen – sinnvoll ist. Und nötig. Danke!
Liebe Dorothee, ich mach´s kurz: 🙏❤ 🙂 Deine Andrea
Liebe Andrea, ich las gerade deinen Text so interessiert und erstaunt, dass also nicht nur ich mich manchmal schwer tue Dinge und auch Gefühle und oft auch Gedanken zu benennen. Mir fehlen so oft die Worte für so vieles, nicht weil es keinen Namen für etwas gibt, sondern weil für mich dieser Name, dieses Wort irgendwie nicht oder nicht mehr oder noch nicht so ganz passen. Wie bei dir mit dem Baum. Ich empfinde es öfter so schwierig mich auszudrücken und klar verständlich zu machen was ich meine. Ich bin nun, dank deines Textes etwas beruhigt und auch irgendwie froh, dass es einfach auch so sein darf und ich nicht zwanghaft nach Worten oder Namen suchen muss.
Ich finde auch sehr interessant wie und was du über (deine) Hochsensibilität schreibst. Ich denke, ich bin es auch und darf da ganz sensibel selbst auf mich Acht geben, denn es ist mir ja nicht direkt anzusehen und deshalb merkt es oft niemand und geht über meine Grenzen. Da bedarf es Selbstfürsorge und Rückzug, wenn es zuviel wird.
Ich wünsche allen Menschen alles Liebe und möge jeder neue Tag als ein Geschenk erkannt werden.
Herzliche Grüße, Melanie Maria
Liebe Melanie Maria – danke für dein Dich-Zeigen und deine Reaktion auf meinen Text. Das Nicht-Finden von Worten hat ja noch eine ganz herzerwärmende und fröhliche Komponente: Einfach neue Worte erfinden, Worte, die dich, dein Empfinden und deine Wahrnehmung genau wiedergeben – oder, wenn schon nicht genau, dann zumindest als Annäherung. Und die Worte können auch jeden Tag anders sein, genau wie die Grenzen und (Schutz-)Räume, die hochsensible Menschen benötigen – manchmal sind sie enger, manchmal weiter und oft tut es auch gut, sich ganz vorsichtig gegen die Wände zu lehnen … 🙂
Herzensgruß, Andrea