Miteinander sprechen

Es war für Annette, meine bereits seit mehreren Jahren pensionierte Kollegin, eine Herzensangelegenheit, jeden Dienstag in der Schule mit einigen Kindern besondere Bilderbücher anzuschauen, dabei Buchstaben zu erkennen, Wörter zu buchstabieren, diese zu lesen, zu erklären, zu erraten und deren Bedeutung zu verstehen.
Immer, wenn mich mein Weg ins Lehrerzimmer führte, denn dort fanden diese besonderen Lesemomente statt, hörte ich intensive Gespräche und sah lachende Gesichter. Welches Kind hat schon seine Lehrerin ganze zwanzig Minuten für sich allein? Annette erfreute so an jedem „Lesedienstag“ mehrere Kinder. Immer konnte ich ein Lächeln im Gesicht der Kinder entdecken, wenn sie nacheinander ihren Leseplatz bei Annette am Tisch einnahmen. Auch ich als Schulleiterin freute mich, von Zeit zu Zeit diese Lesegespräche beobachtend zu begleiten. Das Miteinander-Sprechen ist schließlich die Basis für jedes Verstehen, für jedes Zusammenleben, für jedes Lernen.
Einfach DANKE sagen
Und dafür Danke zu sagen, war für mich ein inneres Anliegen. Annettes Erfahrungsschatz, ihre Expertise, ihr ehrenamtliches Engagement sind nicht mit Gold aufzuwiegen. Da etwas zu finden, was Wertschätzung und Dank ausdrückt, zusätzlich zu der Begeisterung der Kinder, ist schon eine Herausforderung. In diesem Jahr 2017 kam mir eine außergewöhnliche Buchbesprechung im richtigen Moment zu Gehör. Ich erinnere mich genau: Im Autoradio an der Ampel auf der Schnellstraße hörte ich den Hinweis auf die Biografie der französischen Chansonsängerin Barbara. Ich erfuhr etwas über das Leben der Sängerin und etwas mehr über ihr wohl bekanntestes Chanson „Göttingen“. Ein Lied, welches ich schon oft gehört hatte und das Mitte der 60er-Jahre unbeabsichtigt zur Hymne der deutsch-französischen Freundschaftsinitiativen wurde.
Und so versteht bestimmt auch Annette, die mehrere Sprachen fließend spricht, u.a. Französisch, ihre Lesestunden als Brücke des Verstehens zunächst von Mensch zu Mensch und dann schließlich auch zwischen den Nationen. Barbara, die französische Chansonsängerin, dichtete und komponierte das nunmehr berühmte Lied als Dank für den freundlichen Empfang, den die Göttinger ihr damals,1964, bereitet hatten. Sie stellt die Kinder in den Mittelpunkt, indem sie den Satz formulierte: „Aber die Kinder sind die gleichen in Paris wie in Göttingen.“
So sieht es 60 Jahre später, 2024, auch der Kabarettist Alfons, der in den kleinen zwischenmenschlichen Gesten Herzlichkeit und Wärme entdeckt, die wir im Sinne von Barbara auch heute weitergeben können. Er hat sich mit NDR Kultur auf Spurensuche begeben. Auch, so lese ich in Texten über die berühmte Chansonsängerin, wollte Barbara keine politische Hymne schreiben, sondern ganz einfach DANKE sagen.
Nach dem Hören des Radiobeitrags war mir klar: Dieses so warmherzig rezensierte Buch wird Annette gefallen. Sofort habe ich das Buch bestellt und freute mich darauf, meine Bestellung schon am nächsten Tag abholen zu können. Doch der nächste Tag in der Buchhandlung war enttäuschend. Die unvollendeten Memoiren von Barbara waren bereits vergriffen und die zweite Auflage würde einige Wochen auf sich warten lassen.
Also musste ich weiter nachdenken und überlegen. Womit konnte ich Annette eine Freude bereiten? Vorsorglich bestellte ich das Buch des koreanischen Autors Haemin Sunim. Das hatte ich bereits selbst mit Gewinn gelesen. Der Buchtitel klingt sympathisch und weise: Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst.
Als ich nach zwei Wochen das bestellte Buch abholen wollte, war ich freudig überrascht, als mir die Buchhändlerin ein Exemplar der Memoiren von Barbara entgegenhielt. Irgendwo war noch ein Exemplar aufgetaucht und in meine Buchhandlung geliefert worden. Ich ließ mir beide Bücher in mein Lieblingspapier einpacken. Morgen war wieder Lesedienstag und Annette würde wieder da sein.
Überraschungen entdecken
Als das erste Lesekind gegangen war, legte ich ihr das kleine Präsent neben die Kaffeetasse und bedankte mich bei ihr mit wenigen Worten. Da stand auch schon das nächste Kind im Türrahmen. Miriam hatte sofort das Päckchen im Blick und fragte neugierig nach dem Inhalt. Zwischen Lehrerin und Schülerin entwickelte sich ein kleines Ratespiel. Eine Frage folgte auf die andere und eine Antwort nach der anderen war: „Nein.“ Wenn es schon keine Schokolade, kein Spiel, keine Stifte und kein Stofftier waren, was sollte es sein? Miriam schaute weiterhin fragend. Dann forderte sie Annette regelrecht heraus. Das eher kleine Format ließ nicht unbedingt auf ein Buch schließen. „Denk’ mal weiter nach“, neckte die Lehrerin ihre Schülerin. „Was meinst du? Vielleicht ist es ein Klavier?“ Da schüttelte das Mädchen lebhaft lachend den Kopf.
Ich staunte nur noch, schüttelte den Kopf und lachte ebenfalls. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich je das Wort Klavier erwähnt. Ja, ich hatte sogar mit niemandem über ein Geschenk gesprochen. Meine Kollegin konnte überhaupt nicht wissen, dass sich in der kleinen Überraschung eine weitere Überraschung, nämlich ein Buch befand, welches von einem schwarzen Klavier handelte. Da passierte in diesem Moment etwas sehr Realistisches, was sich aber trotzdem dem eigenen Planen entzog. Ich konnte nur noch beobachten und – staunen!
Ob Annette nun das Päckchen zusammen mit Miriam ausgepackt hat, kann ich heute nicht mehr sagen. Vielleicht hat sie auch davon abgelenkt, um die verbleibende Zeit zum Lesen in dem mitgebrachten Bilderbuch zu nutzen.
Für mich standen jetzt aber andere Aufgaben an. Sehr nachdenklich ging ich über den Flur in den nahegelegenen Musikraum. Dort arbeitete schon seit einer Stunde der koreanische Klavierstimmer. Für ihn hatte ich, da wir ihn schon lange Jahre kennen, das bereits erwähnte Buch von Haemin Sunim als Geschenk mitgenommen. Er freute sich über die Überraschung, verbeugte sich lächelnd und ging weiter seiner Arbeit nach: Er stimmte in diesem Moment das schwarze Klavier in unserer Schule.
Als ich aus dem Musikraum zurückkam, war es auf dem Schulflur noch leise. Gleich, nach der Frühstückspause, würden die Kinder lachend und lärmend auf den Schulhof laufen. Jetzt, in diesem Moment, erlebte ich hier eine intensive innere Stille.

Beim Betreten der Verwaltungsräume fiel mein Blick auf ein kleines Bild neben der Tür. Es zeigte eine alte Schiefertafel mit der Aufschrift: École Saint Michel maternelle & primaire. Annette hatte es wegen der Namensgleichheit zu unserer Schule aus Frankreich mitgebracht.
Im Lehrerzimmer lagen die unvollendeten Memoiren der Sängerin Barbara neben Annettes Bilderbuch. Ich kam gar nicht dazu ihr zu erzählen, wie ich das Buch gefunden hatte und was ich momentan damit erlebte. „Übrigens im Musikraum stimmt der Klavierstimmer gerade das schwarze Klavier“, sagte ich beiläufig zu ihr. Sie lächelte. Von draußen waren die lebendig frohen Stimmen der spielenden Kinder zu hören.
Neue Begegnungen schaffen
Vorsichtig löse ich das Klebeband vom Geschenkpapier meines neuen Buches. Ich habe mir „Barbara Es war einmal ein schwarzes Klavier … Unvollendete Memoiren“ selbst geschenkt. Und lese jetzt, 2025, so wie die Buchhändlerin mir sagte, das allerletzte Exemplar der 2. Auflage, mit Gedanken an Barbara, Annette, Miriam, den Klavierstimmer, den Kabarettisten Alfons und viele andere Menschen.

Es sollte weitere Auflagen geben, damit noch mehr Menschen erfahren, wie Wörter durch Barbaras Stimme lebendig geworden sind und wirken. Sie hatte ihr Konzert 1964 nämlich erst begonnen, als das schwarze Klavier, hinter dem sie “unsichtbar“ verschwand, gegen einen Flügel ausgetauscht worden war. Sie wollte ihr Publikum sehen. Damit konnten sie und die Menschen in Göttingen, einander sichtbar, von Herz zu Herz miteinander sprechen. Solche Geschichten sollen wir uns erzählen.
Ohne Zweifel sind wir heute diejenigen, die in jedem uns gegebenen Moment Barbaras unvollendete Memoiren auf unsere je eigene Weise weiterschreiben und neue Begegnungen schaffen können, indem wir miteinander sprechen in Düsseldorf, Göttingen, Paris und anderswo … DANKE.
Gisela Minz, 06.01.2025 (Dreikönigstag)
Was für eine schöne, zu Herzen gehende Geschichte, erzählt von einer Frau, die durch und durch gut ist und den Blick für die kostbaren Momente im Leben in sich trägt. Schade, dass Menschen wie sie äußerst rar sind!
Vielen Dank, lieber Herr Wolberg.