Fastenzeit – Verzicht?
Die Fastenzeit hat begonnen und wir sind eingeladen, etwas wegzulassen, uns zu beschränken. Geht es beim Fasten ursprünglich darum, dem Körper durch andere Ernährung einen Reinigungsimpuls zu schenken, kann Fasten mittlerweile auch als digital Detox daherkommen oder generell als bewusstes Verzichten auf Konsumimpulse. Gleichzeitig steckt in diesem bewussten Weglassen für mich auch die Einladung, mein Augenmerk darauf zu richten, was ich eigentlich wirklich brauche. Im „Wenigen das Wesentliche“ zu erkennen, wie John von Düffel es in seinem gleichnamigen Stundenbuch so wunderbar poetisch beschreibt. Wenn wir uns vom Unwichtigen lösen, so ungefähr drückt er es aus, dann ist der „Verzicht“ eine Befreiung. Gemäß der Unwichtigkeit all der Dinge und Ebenen lösen wir uns von Abhängigkeiten. Abhängigkeiten, die wir erst erkennen können, wenn wir dem Wenigen bewusst Raum geben – dem selbst gebackenen Brot oder dem tiefen Atemzug am Morgen.
Diesen Beitrag zu „Verzicht“ habe ich übrigens bereits 2023 begonnen. Anlass war eine Kampagne der DBU, der Deutschen Buddhistischen Union, die Bettina hier auf den newslichtern geteilt hatte. Es war ein offener Brief an Herrn Scholz, der erklärte, dass die Mitglieder der Union im Hinblick auf den Klimawandel bereit sind zu Wandel und Verzicht. Und diese Bereitschaft politisch eingefordert sehen möchten, denn ohne Selbstbegrenzung könne eine gute Zukunft nicht möglich sein. Damals las ich diese Überschrift und spürte ein dickes, fieses, klumpiges NEIN in mir aufsteigen – nein, ich bin nicht bereit zu verzichten. Nein, ich bin nicht bereit, der jahrtausendealten Geschichte des Mangels noch ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Nein, ich glaube nicht, dass wir die Welt retten, wenn wir nur noch kalt duschen und unsere Familien in den USA nicht mehr besuchen, weil wir unter akuter Flugscham leiden. Und ich bin auch nicht bereit, mich zu schämen, wenn ich mich im Sommer an Sonnenschein und 32 Grad LUFT-Temperatur erfreue. Mein Ego ging in den Widerstand und verschränkte die Arme, weil es in den Verzichtaufforderungen, die damals durch Politik und Medien geisterten, vor allem einen Schiefstand wahrzunehmen glaubte – was wollen die mir von Verzicht erzählen, dachte ich.
Da wollte ich lieber kein anständiger Mensch sein und statt zu verzichten, die Fülle genießen. Die Fülle meines bunten Kleiderschranks, der durch frühere Shoppingtouren und vermeintliche Onlineschnäppchen so gut ausgestattet ist, dass ich nichts Neues mehr kaufe und mich an den alten Schätzchen erfreue, die plötzlich wieder zu Ehren kommen dürfen. Die Fülle eines Vollbads – wenn mir danach ist; einer langen heißen Dusche, wenn ich friere. Die sehr seltene Freude, ein Stück „gutes“ Fleisch zu essen, wenn mein Körper signalisiert, dass er mal wieder „Fleischeslust“ hat. In all diesen und unendlich vielen weiteren Fällen einfach ganz bewusst das tun zu dürfen und zu können, was sich richtig anfühlt: Dieses enorme Privileg zu erkennen und zu genießen – das ist ein unermessliches Geschenk. Wozu sind wir hier auf der Erde – wir sind Leben, das leben soll, wir sind Schöpfung, die die Schöpfung genießen soll. Auskosten – in aller Herrlichkeit feiern. Ich will eine Tulpe in eine Vase stellen und bewundern dürfen, in der Idee, dass ich damit die Bestimmung dieser Blume vollende – wurde sie nicht geschaffen, um mit ihrer Schönheit und ihrem Duft zu beglücken? Ihr Anblick macht mich fröhlich. Soll ich das lassen, nur weil Schnittblumen nicht mehr politisch korrekt sind, weil ich sie den Hummeln wegnehme?
Verzicht macht eng – wenn er aus einer Sichtweise des Mangels verstanden wird. Ich lehne etwas ab, das ich eigentlich gerne hätte. Dass ich brauchen würde. Ich entsage. Askese. Buße. Kasteiung. (Klingt irgendwie alles sehr nach Mittelalter, oder?) Etwas ganz anderes ist es, wenn wir sagen: Danke. Ich brauche nichts. Ich habe von allem genug. Um mich herum ist alles, was ich benötige. Überreich. Überreichlich. Überwältigend.
Im Wenigen finde ich das Wesentliche – es genügt. Ich werde genügsam.
Bitte versteht mich nicht falsch – ich meine wahrscheinlich genau das gleiche wie die engagierten Menschen bei der DBU – ich möchte es nur anders verstanden wissen, möchte einen Perspektivwechsel anbieten. Wir könnten doch auch in Kanzlerbriefen eine andere Geschichte erzählen, die der Fülle? Ich jedenfalls möchte mir diese Geschichte gerne öfter erzählen – eine Geschichte, in der ich so wie ich bin, perfekt bin und mich nicht konsumierend ablenken, belohnen oder aufwerten muss. Das wäre eine Geschichte, in der es hell ist und offen und in der es Wege gibt, keine Sackgassen. Eine Geschichte, in der meine Zufriedenheit und mein sattes Lebensgefühl dafür sorgen, dass die Welt ein Stück schöner wird. Ich sehe es so: Um die immensen Krisen, die sich jetzt schon abzeichnen und all die, die noch kommen werden, bewältigen zu können, benötigen wir als einzelne und als Gemeinschaft alle Kraft, die wir aufbringen können, allen Mut und alle Energie. Also müssen wir im übertragenen Sinne satt sein, magensatt und herzenssatt. Mein Vorschlag wäre also, dass wir auf den schalen Verzicht verzichten und stattdessen unsere Augen öffnen, um uns ganz bewusst an der Perfektion eines Apfels, der Schönheit einer Getreideähre oder dem Duft des Partners an dieser ganz bestimmten Stelle hinter dem Ohr zu erfreuen.
Gedanklich kann ich all Eure Einwände hören, sie sind laut und vielfältig. Ihr fragt, ob es nicht naiv und egoistisch ist, sich zu freuen, während andere leiden? Ist es nicht vermessen, von vollen Kleiderschränken zu schwadronieren und teures Biofleisch zu goutieren, im Wissen, dass nur ein paar Straßen weiter Kinder nicht satt werden? Ich glaube, dass jede/r einzelne von uns diese Gewissensfragen für sich beantworten muss und gebe zu bedenken, dass Verzicht alleine niemanden satt macht oder dafür sorgt, dass ein Krieg aufhört. Und ich glaube in der Tat nicht, dass wir den Klimawandel stoppen könnten, indem wir alle und weltweit unsere CO2-Fußabdrücke auf null reduzieren und ansonsten weitermachen wie bisher. Solange wir den Planeten als Wertstofflager und Müllkippe gleichermaßen verstehen. Solange wir glauben, es wäre gerecht und richtig, dass es Menschen gibt, die ausbeuten und solche, die ausgebeutet werden. Wir stehen nicht über der Natur, wir sind Teil und können uns nicht herauslösen, so sehr wir uns auch technologisch und transhumanistisch bemühen. Mit diesem Verständnis einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist, könnte ein Familienfest mit vielen Menschen, die von überall auf der Welt anreisen, um sich aneinander und miteinander zu freuen mehr für eine bessere Welt tun als 30 eingesparte Transatlantikflüge. Was meinst Du?
Das Buch von John von Düffel heißt „Das Wenige und das Wesentliche“ und du kannst es hier anschauen. Ebenfalls zum Thema passt „Echter Wohlstand“ von Vivian Dittmar – hier.
Liebe Andrea, die Frage nach Verzicht oder nicht, ist immer – und jetzt zu Beginn der Fastenzeit noch mal anders – wert gestellt zu werden. Verzicht/Fasten aus moralischen Gründen führt leider oft zu Bewertung (wer fastet ist besser) und damit m. E. ins „Aus“.
Weil wir (wer auch immer das ist!?) – also, weil ich noch immer wieder im Mangel verhaftet bin und nicht oder nur selten aus Großzügigkeit und Fülle heraus manches lasse.
Es braucht Fülle-Bewusstsein und Freude und – wie du auch schreibst – das tiefe Wissen, wir sind Teil der Erde, der Natur … „genug“ ist kein Verzicht, sondern ein tiefes Gefühl. Darum lasst uns Geschichten der Fülle und der Großzügigkeit erzählen, erfinden, erleben, uns zu eigen machen (ist das nun auch wieder ein moralischer Appell?). Danke, dass du und so viele hier bei den Newslichtern genau das tun …
Liebe Dorothee, danke für deine Gedanken. Ich habe mich in den Satz verliebt: „genug“ ist kein Verzicht, sondern ein tiefes Gefühl. Ganz genau! Und das gilt für das, was wir haben, genauso wie für das, was wir sind. Umarmung, Andrea
Liebe Andrea Goffart, mir kamen noch weitere Gedanken. Das Gefühl verzichten zu müssen, sollen…. ist eben auch „nur“ ein Gefühl. Wir können es fühlen, erkennen und MIT dem Gefühl etwas sein lassen. Und sein lassen fühlt sich schon besser an, oder😉!? Danke für deine Inspiration,
Herzlich Susanne
Liebe Andrea,
welch wunderVOLLer Text und ein GANZ großes Echo in meinem Herzen 💗
Beim Familienfest bin ich so gerne dabei….
In Verbundenheit
Martina
Liebe Martina. Ich danke dir und überlege gerade, ob die Fastenzeit auch mal ein Anlass für ein MEHR statt für ein WENIGER sein könnte? Mehr Familientreffen? Warum eigentlich nicht. Herzlich, Andrea
Verzicht… in einer saturierten Gesellschaft. Es gab lange, wirklich lange Jahre, da mußte ich verzichten, weil ich einfach arm war. Klamotten – immer aus der Kleiderkammer (allerdings kann ich bis heute in keinen Klamottenladen gehen, ohne daß mir übel wird). Kino, Uraubsreisen, Konzerte etc -Fehlanzeige. Da fällt man aus der Gesellschaft schon mal ganz schön raus. Essen baue ich mir inzwischen zu einem großen Teil selber an und bin verdammt dankbar dafür. Das ging auch nur, weil mir ein netter, mir umbekannter Mensch 50 Euro geschenkt hat (! das gibt es auch! das war eine schöne Geschichte, und ich weiß nur daß er Russe ist), davon habe ich dann Saatgut kaufen können.
Also Verzichten, das kommt auf die Sichtweise an. Wie du schon schreibst, auf die Dingen die mich erfreuen, will ich nicht verzichten. Aber Verzichten kann schon mal ganz schön den Blickwinkel ändern, wenn es über längere Zeit durchgezogen wird. Letztendlich kann man auf fast alles in unserer Konsumgesellschaft verzichten, weil einem ja eh nur durch die Werbung suggeriert wird, man brauche es.
Liebe Sabine – von Herzen Dank, dass du deine Erfahrung mit uns teilst – Dorothee schrieb oben, dass wir Geschichten der Großzügigkeit erzählen sollen – deine Geschichte ist so eine. Alles Liebe, Andrea
Liebe Andrea, einfach danke für diesen so wohltuenden und weisen Artikel aus der Fülle der Liebe :-).
Liebe Melanie, ich danke dir. Die Fülle der Liebe ist der ideale Handlungsraum. Herzlich, Andrea
Liebe Andrea
Ich habe deinen Beitrag etwas wirken lassen und teile gerne meine Gedanken dazu:
Bewusst verzichten, ja auch sich einschränken, Gewohntes weglassen kann sich erst bedrohlich anfühlen, kann ein Gefühl eines kalten Entzugs auslösen- aber es wartet auch ein Geschenk.
Es gibt einem die Möglichkeit, Dinge neu zu betrachten, neu zu erleben.
Wird dies negativ bewertet, meldet sich natürlicherweise Widerstand.
Die Fastenzeit gibt, wenn man möchte, einen Rahmen vor, um dies bewusst zu üben.
Und ich kann mein Verhalten erforschen und mich fragen: Wie erlebe ich es, wenn ich auf dieses und jenes verzichte?
Und nach dem Fasten kommt dann die Zeit, um gemeinsam und üppig zu feiern.
„Alles hat seine Stunde“ empfinde ich immer wieder als so weise.
Dein Wunsch nach einem grossen Familienfest finde ich sehr schön und ich empfinde es auch so, dass wir hier sind, um das Leben zu feiern.
Und die Fülle der Liebe zu teilen ist jederzeit möglich und erwünscht, denn sie wird mehr, wenn wir sie teilen, sie erfreut den Beschenkten und die Schenkerin- was gibt es schöneres?
Aber mich an anderen Stellen zu fragen, ob es auch mit weniger geht, empfinde ich wie ein wohltuendes Reinigungsritual- denn ein überquellender Kleiderschrank kann einerseits Freude auslösen, aber einen andererseits auch masslos überfordern.
Liebe Grüsse
Michelle
Liebe Michelle, ich danke dir für den ausführlichen und sehr durchdachten Kommentar. Ich empfinde es als Geschenk, so eine umfassende Rückmeldung zu erhalten. Die Frage, ob es auch mit weniger geht, stellt sich für mich aktuell an so vielen Stellen, und wenn die Antwort Ja lautet, dann tritt ganz oft eine körperliche Reaktion, als Weite im Brustbereich oder im Magen ein. Vielleicht, überlege ich, kommen wir mit der Komplexität im Außen besser klar, wenn wir die Komplexität in uns reduzieren?
Herzlich, Andrea
Liebe Andrea, bei deiner Überlegung „ wenn wir unsere Komplexität im Inneren reduzieren“ spüre ich in mir sofort Enge, Begrenzung.
Ist es vielleicht gerade umgekehrt!? Entdecke, befreie und entwickle ich in mir immer weiter meine eigene innewohnende ursprüngliche Komplexität so komme ich automatisch in meine eigene Fülle. Im Aussen fallen dann automatisch alle kompensierenden Verhaltensmuster ab. Dann bin ich wieder in der Anbindung, Liebe und dann ist automatisch weniger mehr.
Damit fühle ich ein JA und als körperliche Reaktion eine Entspannung und Weite im Brustraum, ich kann ausatmen, ich bekomme wieder Luft.
In Verbundenheit Martina
Liebe Martina, ich glaube, es ist wie immer beides – die innere Komplexität wird sowohl geformt von Glaubenssätzen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten als auch von (Über-)Mut, Lebendigkeit, Kreativität und vor allem Wildheit. Und dieser Teil der Komplexität kommt sicherlich oft zu kurz und ich stimme dir zu, wenn er „verboten“ wird – dann wird es eng und wir beginnen zu kompensieren, um im Außen unsere Rolle – die Fremderwartungen – zu erfüllen. Das hat jetzt gerade der Kopf geschrieben und das Gefühl hat beim Lesen deines Textes ganz laut „Ja“ geschrien – innere Komplexität, einen Schmetterling sehen und mitfliegen, einen Liedfetzen hören und mitschwingen, zwei Ideenfetzen zu einer GEschichte verbinden und der Anbindung an das Große Ganze vertrauen. Genau. GLG Andrea