Wer bin ich, ohne Rolle/n?

Lesezeit 3 Minuten –

Ja, wer? Was bleibt dann übrig? Ich wünschte, ich könnte dann so sein wie Morrie in „Tuesdays with Morrie“ – gütig, gelassen im Worst-Case-Szenario, immer noch liebevoll und von liebevollen Menschen umgeben, denen ich auch immer noch etwas geben kann. Und wenn es „nur“ ist, im Angesicht der eigenen Hilflosigkeit noch ein Mensch zu sein und zu bleiben.

Doch als ich mich zuletzt betrachtete, nachdem einige der wichtigsten Rollen in meinem Leben weggefallen waren, da sah ich etwas anderes:
Ich war sauer, ich war ärgerlich, ja wütend, ich wollte (will!) überhaupt nicht (mehr) „gut“ sein, weder im moralischen noch in irgendeinem anderen Sinn.
Ich ent-deck(t)e eine Freude an Gemeinheit, ich ent-deck(t)e Egoismus, den Wunsch, etwas (Geld) nur für mich zu haben, mich auch mal rücksichtslos über andere hinwegzusetzen, um nur für mich und das, was mir Freude macht, da zu sein. Mein Ökobewusstsein war weg oder vielleicht auch noch da, doch es wollte nicht mehr von mir und meinen Handlungen bedient werden. Ich wünsche mich nach Sri Lanka oder auf die Fidschi Inseln zu einer ausgedehnten Ayurvedakur mit liebevollen (und schlecht bezahlten) Menschen, die sich um mich kümmern.
Meine Spendenbereitschaft ging gegen Null.

Und – fast das Schlimmste – all das erfüllt/e mich mit einer tiefen Befriedigung und ich könnte „JA! JA! JA!“ schreien.

Wo sind all meine moralischen und sonstigen Rücksichten hin?
All das, was ich gelernt habe und über Jahrzehnte versucht habe zu leben.
Ich will das alles gerade gar nicht!

Wo ist meine Liebe zu (Groß-)Mutter Erde und all ihren Geschöpfen, von denen ich ja Teil bin? Bin ich in Wahrheit eine schrecklich egoistische und unsoziale Person?

Offenbar bin ich das zumindest AUCH.

Das erschreckt mich (neben der diebischen Freude, die es mir macht!). Es stößt mich auch ab. Und womöglich ist das nur die Spitze des Eisbergs – wer weiß denn, was da noch so alles in mir steckt?
Vielleicht habe ich in früheren Leben Menschen verraten, getötet und gefoltert?
Ich weiß es nicht, und ausschließen kann ich es auch nicht.
Ich erinnere mich, dass ich vor etlichen Jahrzehnten in einem Psychodrama die Rolle der Stiefmutter von Hänsel und Gretel sehr überzeugend gespielt habe – ich hatte sehr überzeugende Gründe, die Kinder auszusetzen! Sodass am Ende meine Kommiliton*innen mich gemieden haben – und nicht nur für die Dauer des Spiels. Da war ich einmal nicht die „Gute“, und gleich am Rand.
Wenigstens bin ich nicht verbrannt worden, doch mein Bedarf an Rollenwechsel war erstmal gedeckt. Gleichzeitig war und ist das ja auch in mir. Womöglich wäre ich unter anderen Umständen ein Trump, Netanjahu oder Hitler?

Ich bin mir nicht mehr sicher.

Im Moment sind die Umstände so nicht.
Ich sehe dennoch Züge und Wünsche in mir, die mich erschrecken.
Kann ich sie da sein lassen?
Mir und ihnen erlauben, auch zu sein, in mir?
Davon, sie zu umarmen, spreche ich erst gar nicht.

Wer bin ich ohne Rolle/n?

Kann ich auch diese Erkenntnisse und Zuschreibungen fallen lassen?
Das Erschrecken?
Wer bin ich ohne meine Rollen, Gedanken, Geschichten?

Es gibt Momente, da scheine ich ohne das alles zu sein und es ist still und friedlich in mir, und weit …

Doch woher weiß ich, dass nicht auch das eine Rolle ist – die der Meditierenden, der  achtsamen alten Weisen – einfach eine weitere (Wunsch-)Vorstellung?

Kann ich mich in dieses Nicht-Wissen hinein entspannen?
Weiterleben, von Moment zu Moment, Erkenntnis zu Erkenntnis?
Immer wieder mal. Immerhin.

Sharing is caring 🧡
Dorothee Kanitz
Dorothee Kanitz

Dorothee Kanitz ist Mitglied des newslichter next level Teams, Autorin, Seelfrau und Wegbegleiterin. www.meditation-spirit-ritual.de

8 Kommentare

  1. Liebe Dorothee, sie sprechen mir aus der Seele. Mir gehts grad auch so. Ich will nicht mehr die verständnisvolle, hilfsbereite und liebevolle sein. Ich will diese Rolle nicht mehr spielen sondern mein authentisches Sein und ja wer weiß was da noch alles in mir ist. Ganz lieben Dank für diese für mich so wertvollen Zeilen. LG Waltraud

  2. Liebe Dorothee, ich danke dir für dein Schildern deines inneren Erlebens. Für mich ist es so wertvoll und ich ertappe mich dabei, dass auch ich diese anderen Aspekte in mir gut kenne, die nicht immer nur gut und moralisch korrekt denken und handeln.

    Wer bin ich ohne all diese Rollen und Masken? Danke für deinen Denkanstoß.

    Immerhin konnte ich beim Lesen auch lächeln.

    Von Herzen liebste Grüße zu dir 💞

  3. Liebe Dorothee,
    welch wunderVOLLER, LEBENdiger Text, welch ein großes Geschenk……
    Die Enge der Rollen abzustreifen und mir erlauben das, was sich in der Nacktheit, Echtheit lebendig wieder zeigen darf zu würdigen und zu umarmen ….
    Ich spüre in mir diese LEBEN spendende Erlaubnis wieder GANZ und ECHT zu sein, meinen Bedürfnissen wieder achtsam, liebevoll und zart meinen Raum zu öffnen …. die alten Fesseln abstreifen und FREI SEIN …..
    Atmen, innehalten, entspannen, mich wieder ganz fühlen in MIR, wieder ganz mit mir sein, in Beziehung sein …. FRIEDEN ….. auf einmal geht in dieser Stille das Licht an und ich spüre, erkenne, was jenseits der vielen Rollen für eine Weite an Möglichkeiten sich mir offenbart zu wählen …. mit der Erlaubnis wieder ich SELBST zu sein, mich NEU kennenzulernen …. neu laufen lernen ….
    Ich danke dir 🙏 von Herzen, Martina

  4. Liebe Dorothee,
    du hast bei mir einen Nerv getroffen und machst mir Mut. Danke dafür.
    Ich habe mich mein Leben lang über die Rolle der hilfsbereiten, mütterlichen Freundin / Partnerin / Kollegin definiert. Es wird Zeit, dass ich auch zu meinen arschigen Seiten stehe. Danke für deinen Text und die all die Fragen!

  5. Wundervoller Text… in letzter Zeit scheinen alle Texte für mich wie gemacht zu sein…
    Bin demnächst rollenlos, und wünschte ich könnte arschig sein. Fühle mich im Nichts verschwinden- was irgendwie schön aber auch gruselig ist… danke für die Zeilen

  6. Liebe Dorothee
    Ich kann mir das gut vorstellen, wie es dir geht, und das andere, das sich nun zeigt, will gesehen werden. Statt nun aber hitzköpfig von einem Extrem ins andere zu wechseln, gibt es ja auch die Möglichkeit für den Weg in der Mitte, so dass man sich wirklich ganz und authentisch fühlt und ins Leben einbringt.

    Ähnliche Gedanken mache ich mir ab und zu zu den Newslichtern: Die beiden Mitschreiberinnen, die es gewagt hatten, sich mit Ecken und Kanten einzubringen, sind weitergezogen- und ich vermisse sie.
    Es sind dies Claudia und Evelin.
    Für mich haben sie es gewagt, unbequem zu sein, herauszufordern- und dadurch waren sie in ihrem Sosein so gut wahrnehmbar. Ich blieb ab und zu irritiert zurück nach einem Beitrag, doch es hatte mich angeregt, weiter darüber nachzudenken.
    Wie schon früher Mal erwähnt, fehlt mir hier etwas das Feuer.

    Und vielleicht geht es dir ja auch so: Vielleicht ist es das Feuer der höchsten Lebendigkeit, das gelebt werden will, lodernd und wild!

  7. Liebe Dorothee,
    genau diese super spannende Frage habe ich mir auch mal gestellt und bin dann irgendwann bei der Frage gelandet: Wer bin ich ausserhalb meiner Resonanzen ?
    Wie definiere ich mich ausserhalb meiner Resonanzen ? Geht es überhaupt mein Sein zu finden, ohne zu resonieren? Und wie weit hängen Resonanz und Rolle zusammen ?
    Und immer wieder die Meisterübung: raus aus der Bewertung !!! ( was passiert dann mit Resonanz und Rolle ? ).
    Dann ist arschig/unbequem/unfreundlich genau das Selbe, wie nett/verständnissvoll/freundlich. Es ist nur eine weitere Art und Weise sich zu verhalten. Nicht besser oder schlechter. Gelebte Vielfalt !!!!
    So wie eine Birke eine Birke ist und eine Kiefer eine Kiefer ist. Beides sind Bäume. Aber die Eine ist nicht besser, schöner, wichtiger …. als die Andere.
    Also laßt uns Alle SSSOOOOO VIELFÄLTIG sein, wie es eben geht .
    Von Herzen
    Angela

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