Geschwisterliebe

Wir waren uns sehr nah, meine große Schwester und ich. Die Nähe begann schon mit unseren Geburtstagen, ich habe ihr nur 15 Monate Vorsprung gelassen. Unser Dorf war sehr klein, es lebten dort nur noch zwei Brüder, die unsere Spielkameraden waren. Die enge Beziehung bestand bis in unsere Studienzeiten und Berufsanfänge hinein.
„Blut ist dicker als Wasser“, sagte sie einmal tröstend zu mir, als mein damaliger Freund mir ganz plötzlich den Laufpass gab.
„Blut ist dicker als Wasser.“ Das klingt für mich wie ein Versprechen. Wie ein „Ich bin da für Dich“.
Vor kurzem habe ich sie um Hilfe gebeten. Sie hat nein gesagt. Ich war vollkommen schockiert, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Hand in Hand mit dem Schock kamen der Schmerz, die Traurigkeit und die Tränen.
Das Schwierigste an der Traurigkeit ist immer der Schmerz, der sich so überwältigend anfühlt. Ich wollte ihn dringend weghaben, diesen Schmerz. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich den Schmerz in lodernde Wut umwandelte, dann in das befriedigende Gefühl des Beziehungsabbruchs – „Die kann mich mal“, anschließend in Hochmut und Verachtung – “wie erbärmlich…“, in Selbstgerechtigkeit – „wie egoistisch…“, und schließlich Selbstmitleid. Blut ist doch nicht dicker als Wasser.
Tagelang bewegte ich mich auf dieser Gefühlsklaviatur und egal welchen Gedanken ich hatte, ausnahmslos war er Ausdruck eines dieser „Ersatzgefühle“.
Das Schöne an den Ersatzgefühlen ist, dass sie nicht schmerzen. Im Gegenteil, sie sind ein hervorragendes Ventil. Wut, Selbstgerechtigkeit, Hochmut – sie sind so herrlich entlastend. Dennoch haben sie einen entscheidenden Nachteil: Sie halten mich in einer Endlosschleife gefangen. Und maskieren die Traurigkeit, die ja trotzdem noch da ist.
Was tun? Heute Morgen in meiner stillen Zeit stand es in großen Lettern vor meinem inneren Auge: MITGEFÜHL.
„Mitgefühl? Boah, echt jetzt?“ war die spontane Reaktion des Anteils in mir, der immer noch für die gemeine Schwester bedauert werden wollte.
Ein anderer Teil wusste intuitiv „Das ist es. Das ist der Schlüssel“.
Ich sehe Dich, Schwester. Ich sehe Dich, Mensch. Ich erkenne Dich. Sie konnte sich nicht anders entscheiden.
Es geschah ein Wunder: Mein Herz wurde weich und weit. In mir breitete sich tiefer Frieden aus. Es tut auch immer noch ein bisschen weh, doch in diesem Mitgefühl kann ich auch Trost für mich selbst empfinden.
„Es tut auch immer noch ein bisschen weh, doch in diesem Mitgefühl kann ich auch Trost für mich selbst empfinden.“
So ganz nebenbei zeigt sich hier ein geistiges Grundprinzip: Ich sende auf Gedanken reisend einem anderen Menschen ein Gefühl und das Gefühl kann nicht anders, es wirkt auch in mir.
Insofern ist der Ausdruck von Mitgefühl anderen gegenüber auch immer ein Akt der Liebe uns selbst gegenüber. Wir ernten, was wir säen.
Danke Schwesterherz!
Danke Nadine 💚
Liebe Nadine!
Hab Dank für dein Teilen dieses wichtigen und manchmal schmerzhaften Prozesses des Sehens und Mitfühlens. ❤️
Wie unterschiedlich Familie als „Bubble“ doch sein kann: Meine Schwester (7 Jahre älter als ich) habe ich erst nach langem Ziehen und Zerren sehen und (mit)fühlen können … Sie war, seit ich denken kann, eine „typische“ Erstgeborene, die meine Brüder und mich beschützen und leider oft genug auch erziehen wollte. Warum sie diese Rolle, die mich immer getriggert hat, so extrem eingenommen hatte, ist mir vor einiger Zeit mit der Aufarbeitung unserer Familiengeschichte klargeworden.
Vom Verstehen zum Mitfühlen und loslassen können war es dann aber noch ein längerer Prozess.
Mit dem Tod unserer Mutter vor einem Jahr konnten wir beide plötzlich unserer Rollen als „die Große und die Kleinste“ endgültig ablegen.
Seitdem ist ein entspannteres einander sehen und lassen können möglich.
Dafür bin ich sehr dankbar 🙏
Herzensgrüße
Imke
…dabei lautete es ursprünglich:
“The blood of the covenant is thicker than the water of the womb”