Kolumne: Gunst
Ich liebe die vergessenen Worte. Sie erscheinen mir wie kostbare Juwelen im Schatzhaus unserer Sprache – Zeugnisse einer vom Aussterben bedrohten Geistesart, die mehr von der Tiefendimension des Lebens ahnte und um die filigranen Schwingungen der Seele wusste. Gunst ist ein solches Wort. Es bringt eine Qualität des Lebens zur Sprache, die kaum noch gewusst und noch seltener gelebt zu werden scheint.
Gunst kommt von Gönnen. Wer einem anderen günstig ist, der gönnt ihm etwas. Die Gunst gilt immer anderen. Sie freut sich am Erfolg des anderen, an seiner Freude, seinem Glück. In ihr sind keine dunklen Flecken. Wer anderen günstig ist, kennt keinen Neid. Er lebt nicht im Vergleich, ist nicht getrieben von der Frage: Warum hat der etwas, das ich nicht habe? Die Gunst ist frei von diesem ewig quälenden Rückbezug auf das eigene Ego. Sie hat die Kette der Kleinlichkeit abgelegt, die heute so viele Menschen zu Sklaven ihrer Selbstsucht macht. Gunst ist die Frucht einer freien Seele. Darin liegt ihre Schönheit.
Und ihre Würde liegt darin, niemals nach Verdienst zu fragen. Großmütig ignoriert sie die uns wohlvertraute Logik des Messens und Wägens. Sie hasst es, irgendwelche Rechnungen anzustellen, ob dem anderen denn auch zukomme, was ihm zuteil wurde. Sie sucht nicht nach dem Stein des Anstoßes und nimmt die Dinge einfach wie sie sind. So befreit sie aus den Klauen der ökonomisch-funktionalen Intelligenz. Alles Kleinliche ist ihr zuwider. Sie zeugt von einer großen Seele.
Wo aber findet man die noch? Wohin ich schaue: Missgunst und Neid – zähes Kreisen um das eigene Ego, Leben im Vergleich. Und im Kopf. Die von Aristoteles gerühmte Tugend der Großherzigkeit suche ich in unserer Welt meist vergebens. Großherzigkeit und Gunst sind Schwestern. Gemeinsam wohnen sie in einem weiten Herzen, das groß genug ist, gern zu geben; in einem starken Herzen, das den klebrigen Einflüsterungen des ewig neidischen Ich zu widerstehen weiß. Souverän überhört die Gunst dessen Mantra: „Jetzt bin ich dran“. Wer solches denkt, kann nicht mehr günstig sein.
Die gute Nachricht ist: Man kann die Gunst trainieren. Das Leben bietet dafür reichlich Gelegenheit. Probieren Sie’s aus. Nehmen sie sich vor, einen Tag lang jedem das zu gönnen, worüber er sich freut und was ihn glücklich macht. Spülen Sie den spröden Neid aus ihren Augen und schauen Sie mit dem klaren Blick der Gunst in die Welt. Alles wird leuchtender und strahlender. Der Tag, an dem Sie das probieren, wird ein Feiertag. Eigentlich ein Projekt, das Pfingsten würdig ist. Wie wär’s?
Christoph Quarch: “Für mich ist Philosophie eine Übung des Gemeinsinns. Denn wer philosophiert, gewinnt eine Vogelperspektive, die aus der Enge der täglichen Interessen und Nöte befreit und den Blick für das Ganze öffnet. Und das im Gespräch mit Anderen. Solche befreienden Höhenflüge möchte ich Ihnen bei meinen philosophischen Reisen und Seminaren ermöglichen.”
Mehr zu seinen Büchern, Vorträgen und Reisen auf seiner Website www.christophquarch.de/