Toni Erdmann – Der heimliche Gewinner von Cannes


Von Marga Boehle. Die 69. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt hatte vor allem ein Thema: Mit Maren Ades „Toni Erdmann“ war nicht nur erstmals seit acht Jahren wieder ein deutscher Film im Wettbewerb – es war auch noch der beste im Hauptprogramm! Nie zuvor hatte es eine so hohe Wertung durch die internationale Filmkritik gegeben, die das Branchenblatt „Screen“ täglich meldet, nie waren sich die Journalisten aus aller Welt so einig wie bei den Hymnen auf Ade. Selten hatte man eine Pressevorführung wie diese erlebt, ein Man-muss-dabei-gewesen-sein-Moment samt Gänsehaut und Szenenapplaus, eine Seltenheit in Cannes. Umso mehr stieg die Spannung vor der Preisverleihung, umso enttäuschter, ja fassungsloser waren alle, die zehn Tage an der Croisette mitgefiebert hatten, dass diese große menschliche Tragikomödie dann leer ausging.

Dabei ist „Toni Erdmann“ schlicht ein Meisterwerk, ungewöhnlich für den erst dritten Film einer jungen Regisseurin, die allerdings mit „Alle anderen“ und ihrem Debüt „Der Wald vor lauter Bäumen“ schon ihr Talent zeigte. Was so bestechend ist, neben den grandiosen Leistungen von Sandra Hüller und Österreichs Burgtheater-Star Peter Simonischek, ist die tiefe Menschlichkeit und die fantastische Mischung aus Ernst und Humor, die nur wenigen Regisseuren gelingt.

Und er handelt von einem Thema, das wirklich jeden betrifft: Eine Vater-Tochter-Beziehung in der Krise.

Denn sind und bleiben wir nicht alle immer die Kinder unserer Eltern, auch wenn wir weit weggangen sind und ein vermeintlich ganz eigenständiges Leben begonnen haben? Alt-68er Winfried ist Musiklehrer und, mehr als er wahrhaben will, vom Tod seines Hundes getroffen. Spontan beschließt er, seine Tochter Ines in Bukarest zu besuchen, wo sie sehr erfolgreich als Unternehmensberaterin (und Jobkillerin) arbeitet. Natürlich kommt der Vater mit seinem Hang zu schlechten Späßen ungelegen, passt überhaupt nicht in den übervollen Terminkalender der gestressten Tochter. Beide spüren, wie sehr sie sich voneinander entfremdet haben, auch ideologisch. Eigentlich will der Vater abreisen, doch dann überrascht er Ines mit einer Verwandlung: Mit schiefem Gebiss, wilden Klamotten und gefärbten Haaren taucht er als Toni Erdmann wieder auf. Ines ist entsetzt. Doch die Maskerade ermöglicht zur Verblüffung beider einen neuen Umgangston miteinander. Je intensiver sie aneinander geraten, desto näher kommen sie sich. Ein großer Film und ein Ausnahmefilm, der nicht nur mit seiner Haltung überzeugt, sondern auch mit perfektem Humor, Timing und Tiefgang unterhält. Und ein Film, der alle angeht: Ab 14. Juli können Sie sich selbst davon überzeugen!

Die Preisträger
Das Kino ist die Kunstform, die am direktesten unsere Welt spiegelt. Und ihre Ungerechtigkeiten. Davon erzählt, brillant, wie man das von ihm gewohnt ist, ein weiteres Mal Ken Loach. Mit „I, Daniel Blake“ gewinnt der 79-jährige Sozialrebell bereits zum zweiten Mal die Goldene Palme (nach „The Wind That Shakes the Barley“ 2006). Es ist nicht nur ein kämpferischer Film, sondern auch ein berührender, dessen tragischem Sog man sich nicht entziehen kann. Inszeniert wie eine griechische Tragödie, zeigt er, wo heute die wahren Tragödien stattfinden: auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, bei denen, die durchs soziale Netz fallen und trotz Arbeit und Ehrlichkeit im unerbittlichen Turbo-Kapitalismus kein Bein mehr auf den Boden bekommen. Loach, das soziale Gewissen des europäischen Kinos, siedelt sein Drama im menschlich kalten England an, wo der 59-jährige Daniel Blake, der sein Leben lang als Schreiner gearbeitet hat, nach einer schweren Erkrankung auf die Hilfe des Staates angewiesen wird – und sich unentrinnbar in den Fallstricken einer unmenschlichen Bürokratie verfängt, ebenso wie die alleinerziehende Mutter Katie mit ihren beiden Kindern. Dass er seine Geschichte staatlichen Versagens auch noch bei aller Tragik mit typisch britischem Humor versieht, macht Loach zu einem würdigen Preisträger.

Einfach das Ende der Welt

Der Große Preis der Jury um „Mad Max: Fury Road“-Regisseur George Miller für den zweitbesten Film ging an das kanadische Wunderkind Xavier Dolan für sein bewegendes Kammerspiel „Einfach das Ende der Welt“ (Kinostart: 29. Dezember). Es handelt von einem schwulen Schriftsteller, der nach 12 Jahren Abwesenheit erstmals nach Hause zurückkehrt, nur um seiner Familie zu berichten, dass er bald sterben wird. Bei der Verfilmung eines Theaterstücks mixt Dolan eine Überdosis Pop (Original-Score Gabriel Yared) mit Kreisch-Orgien der Familienmitglieder, die gehörig an den Nerven zerren. Trotzdem verliert er keine Sekunde seine Erzählung aus den Augen, findet immer wieder den direkten, unverstellten Blick auf seinen Protagonisten – und der geht unter die Haut. Im Kammerspiel um eine dysfunktionale Familie, um die Unfähigkeit zum Zuhören, zur Empathie, zum Sehen des Abgrunds, der sich auftut, um Einsamkeit und Bitterkeit brillieren große französische Stars wie Marion Cotillard, Léa Seydoux, Vincent Cassel, Nathalie Baye und Gaspar Ulliel.

Den Regiepreis teilen sich der Rumäne Christian Mungiu, der einst in Cannes mit dem Abreibungsdrama „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ für Furore gesorgt hatte, für die Familiengeschichte „Bacalaureat“ und der Franzose Olivier Assayas für seinen umstrittenen Geisterfilm „Personal Shopper“ (Kinostart 19. Januar 2017) mit Kristen Stewart in jeder einzelnen Einstellung. Fürs beste Drehbuch wurde der Iraner Asghar Farhadi mit seinem Ehe-Drama „The Salesman“ ausgezeichnet. Sein Hauptdarsteller Shahab Hosseini gewann den Schauspielerpreis. Als Beste Schauspielerin wurde Jaclyn Jose geehrt, in „Ma’Rosa“, einem Sozialdrama des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza. Einzige Frau im Preisreigen war ansonsten Regisseurin Andrea Arnold: Sie gewann den Preis der Jury für ihr ungewöhnliches Roadmovie „American Honey“, in dem sie eine Gruppe junger Drücker, die wie spießige Handelsvertreter Zeitschriften an der Haustür verkaufen, auf einen wilden Trip durch den Mittleren Westen schickt.

Loving


Und da gute Filme immer auch gute Nachrichten sind, sollen zwei ganz besondere hier noch erwähnt werden, auch wenn sie keinen Preis bekamen: Jeff Nichols „Loving“ – der Titel ist Programm! – erzählt die wahre Geschichte eines Paares aus den Südstaaten im Jahr 1958, das aufgrund seiner unterschiedlichen Hautfarbe – sie ist schwarz, er weiß – verfolgt wird und die Heimat verlassen muss. Die Rechtmäßigkeit ihrer Ehe erstreiten sich die beiden schließlich in einem Aufsehen erregenden Prozess vor Gericht. Der andere Film ist das neue Feelgood-Werk von Kultregisseur James Jarmusch, „Paterson“ (Kinostart: 17. November). Der Titelheld, der seine Frau und die Poesie über alles liebt, verdient seine Brötchen als Busfahrer im Städtchen Paterson in New Jersey. Nur als der Mops seiner Frau das Notizbuch auffrisst, in das Paterson (Adam Driver) täglich seine Gedichte schreibt, droht der gelassene Mann kurzzeitig die Fassung zu verlieren. Doch zum Glück findet er zurück zur Poesie seines Alltags. Unbedingt sehenswert!

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