Märchen vom Auszug der „Ausländer“

Bild von Jill Wellington auf Pixabay

Eine Weihnachtsgeschichte zum Nachdenken von Helmut Wöllenstein. Es war einmal…, so beginnt das Märchen „Von denen, die auszogen, weil sie das Fürchten gelernt hatten.“ Es war einmal… etwa drei Tage vor Weihnachten, spät abends. Über den Markplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen. Sie blieben an der Kirche stehen und sprühten auf die Mauer „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Steine flogen in das Fenster des türkischen Ladens gegenüber der Kirche. Dann zog die Horde ab. Gespenstische Ruhe. Die Gardinen an den Bürgerhäusern waren schnell wieder zugefallen. Niemand hatte etwas gesehen.

„Los, kommt, es reicht, wir gehen“.

„Wo denkst du hin! Was sollten wir denn da unten im Süden?“

„…da unten? Das ist immerhin unsere Heimat. Hier wird es immer schlimmer. Wir tun einfach das, was da an der Wand geschrieben steht: „Ausländer raus!“

Tatsächlich, mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der Geschäfte sprangen auf: Zuerst kamen die Kakaopäckchen heraus mit den Schokoladen und Pralinen in ihren Weihnachtsverkleidungen. Sie wollten nach Ghana und Westafrika, denn da waren sie zu Hause. Dann der Kaffee, palettenweise, der Deutschen Lieblingsgetränk; Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat. Ananas und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und die Erdbeeren aus Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf, Pfeffernüsse, Spekulatius und Zimtsterne, denn die Gewürze in ihrem Inneren zog es nach Indien. Der Dresdner Christstollen zögerte. Man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab: Mischlingen wie mir geht’s besonders an den Kragen. Mit ihm kamen das Lübecker Marzipan und der Nürnberger Lebkuchen. Nicht Qualität, nur Herkunft zählte jetzt. Es war schon in der Morgendämmerung, als die Schnittblumen nach Kolumbien aufbrachen und die echten Pelzmäntel mit Gold und Edelsteinen an ihrer Seite in teuren Chartermaschinen in alle Welt starteten.

Der Verkehr brach an diesem Tag zusammen. Lange Schlangen japanischer Autos, vollgestopft mit Optik und Unterhaltungselektronik krochen gen Osten. Am Himmel sah man die Weihnachtsgänse nach Polen fliegen, auf ihrer Bahn gefolgt von den feinen Seidenhemden und den Teppichen aus dem fernen Asien.

Mit Krachen lösten sich die tropischen Hölzer aus den Fensterrahmen und schwirrten zurück ins Amazonasbecken. Man musste sich vorsehen, um draußen nicht auszurutschen, denn von überall her quollen Öl und Benzin hervor, floss zu Bächen zusammen und strömte in Richtung Naher Osten.

Doch man hatte bereits Vorsorge getroffen. Stolz holten die großen deutschen Autofirmen ihre Krisenpläne aus den Schubladen: Der alte Holzvergaser war ganz neu aufgelegt worden. Wozu ausländisches Öl?! – Aber es half nichts, die VW´s und die BMW´s begannen sich aufzulösen in ihre Einzelteile, das Aluminium wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia, ein Drittel der Eisenteile nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire. Und die Straßendecke hatte mit dem ausländischen Asphalt im Verbund auch immer ein besseres Bild abgegeben als heute.

Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade rechtzeitig zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr im Land. Aber Tannenbäume gab es noch, auch Äpfel und Nüsse. Und „Stille Nacht“ durfte gesungen werden – wenn auch nur mit Extragenehmigung, das Lied kam immerhin aus Österreich.

Nur eines wollte nicht so recht ins Bild passen. Maria, Josef und das Kind waren geblieben. Drei Juden. Ausgerechnet.

„Wir bleiben“, sagte Maria, „Wenn wir aus diesem Lande weggehen – wer will ihnen dann noch den Weg zurück zeigen, den Weg zurück zur Vernunft und zur Menschlichkeit?

Quelle: Helmut Wöllenstein, zuerst veröffentlicht als „ Zuspruch am Morgen“ am 20.12.1991 im Hessischen Rundfunk im Zusammenhang der massiv wachsenden Ausländerfeindlichkeit, die wenig später zu den Brand- und Mordanschlägen in Mölln und Solingen führte Kontakt zum Autor:
Georg-Voigt-Str. 72 a
35039 Marburg
06421 982783 oder 22981
helmut.woellenstein@t-online.de

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11 Kommentare zu “Märchen vom Auszug der „Ausländer“
  1. Cornelia Mohrig sagt:

    Danke für diesen schmissigen Text  , den ich eben gerade gelesen habe .. das passt  zum heutigen Tag   .. Love, Peace and joy to the world .. Cornelia Mohrig bzw. nelly bachmann und der Orden Ginkgo Biloba ,  Hannover

  2. DMan sagt:

    Schade das hier kein Unterschied zwischen wertvollen, multikulturellen Bereicherungen und kriminellen, sozialschmarozern und intigrationsverweigerern gemacht wird.

    • PaHa sagt:

      …Die Kluft zwischen anständigen und kriminellen Menschen verläuft eben nicht entlang Nationalität und Hautfarbe, sondern immer noch entsprechend dem vorhandenen Maß an Hirn und Herz. Das fehlt leider mitunter nicht nur Ausländern sondern auch unseren eigenen Landsleuten in erschreckendem Ausmaß…

  3. Elisa sagt:

    dieses Märchen paßt in jede Zeit und wunderbar die umfassende Erinnerung an all das, was uns umgibt und von der ganzen Erdkugel kommt. Danke für die Erinnerung

  4. Nun weiß ich, was ich am letzten Schultag mit meinen Schülern mache – ich werde eine , nämlich diese Weihnachtsgeschichte lesen und sie graphisch umsetzen lassen (unterrichte in einer Gestalter-Klasse).
    Danke für diesen Text – gibt ja keine Zufälle!

  5. Diese schöne Geschichte habe ich in Versform gesetzt und vertont:

    https://www.youtube.com/watch?v=CaDUGQ6VRsk&t=1s

    Viel Spaß und schöne ruhige Tage im Kreise der Lieben!

    Peter Starfinger

  6. V.F. sagt:

    Es ist eine sehr schöne Geschichte. Allerdings ist es nicht nur so schwarz/weiß. Aktuell sehe ich alles viel differenzierter. Und jedem dem wirklich daran liegt, dass endlich Frieden auf der Welt herrscht und niemand gezwungen ist seine Heimat zu verlassen, sollte die rosarote Brille abnehmen und endlich anfangen alles was nicht stimmig ist zu hinterfragen.

  7. Ute sagt:

    Die Brillen, die wir abnehmen sollten, sind nicht nur die rosaroten, sondern auch die schwarz-weißen…
    was wir differenzierter betrachten sollten, sind MENSCHEN.
    Wenn wir jeden einzelnen als den ansehen, der er oder die sie ist – dann werden wir weder rosarot, noch schwarzweiß über „Ausländer“ urteilen; die gibt es in dieser Allgemeinheit ja gar nicht.
    Mir gefällt der Hoffnungsschimmer am Ende der Geschichte…

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