Stolperworte

Bild von Susanne Jutzeler, suju-foto auf Pixabay

Von Joachim Löwning. Ich stolpere über Wörter. Über manche schon seit Langem, immer wieder. Und wenn ich das Gleichgewicht wiedergefunden habe, wieder gleichmäßig mit beiden Füßen vorankomme, hat sich die Welt verändert.

Allein ist so ein Wort.

Ich sitze im Garten, es wird dunkel. Vor mir auf dem Tisch flackert ein Windlicht. Ich habe Papier und einen Stift und will schreiben.
Irgendwo reden Leute, lachen. Ich bin allein.

-Ich bin allein- schreibe ich und stolpere.

Ich bin nicht verlassen, ich bin nicht traurig. Im Gegenteil, ich freue mich auf´s Schreiben. Und doch steht da – ALLEIN.

Ich schaue es an. Es sieht traurig aus, aber da ist noch etwas. Und plötzlich sehe ich – das sind ja zwei Wörter. Ich trenne sie. ALL – EIN, eins, einig, einig mit dem All bin ich und glücklich schreibe ich mir das Herz leer.

Ein andermal schreibe ich eine Nachricht. Erstaunliches hatte ich erlebt und wollte mitteilen, wie wunderbar mein Tag war. WUNDERBAR – da war es wieder, das Stolpern. Wunder-bar, was heißt das? Ich gehe bar- fuss, bar-häuptig, ich bin manchmal bar jeder Vernunft. Ich gehe ohne Schuhe, ohne Kopfbedeckung, bin ohne Vernunft, alles zu seiner Zeit. Aber wunder – ohne was denn? Oder heisst wunderbar: ganz ohne Wunder?

Mein Tag war voller Wunder, also schreibe ich: WUNDERVOLL.

Wundervoll – so wünsche ich mir die Welt und stolpere nun immer wieder bei wunderbar.

Am meisten stolpere ich zur Zeit über das Wort Ich. Dauernd benutze ich es, aber was meine ich denn damit? Und warum kann jeder zu sich „ich“ sagen? Wir sind doch alle so verschieden, jeder ist einzigartig. Meinen wir das mit „ich“, oder meinen wir etwas anderes?

Im Ausweis müssen wir den Namen angeben, damit wir uns unterscheiden. Würden wir statt dessen „ich“ hinein schreiben, wüssste niemand, wer gemeint ist.

Das kleine Kind lernt spät, zu sich ich zu sagen. Wir sagen, es erkennt sich dann selbst, es grenzt sich von der Umwelt ab. Aber – vorher hat es meistens schon seinen Namen benutzt. Karl, Mama und Papa, jeder hat seinen Platz. Wozu braucht Karl das Ich? Wo kommt das her?

Dass das Kind aus Mama´s Bauch kommt, wissen wir, auch wie es hinein kommt. Aber alles andere?

Vielleicht hat Karl die Erinnerung an das Ich durch die Geburt verloren und sie dann endlich wiedergefunden. Vielleicht hat er gespürt: alle sind ich. Und mit Freude hat er sich erinnert: da komm ich her, da ist mein zu Hause.

Wo alle ich sind gehöre ich hin, da fühl ich mich wohl, freut er sich und ist nun auch Ich.

Mir war diese Bedeutung verloren gegangen. Aber jetzt weiß ich: da, wo wir einig sind, einig mit dem All, da ist mein Ich. Und ich ahne, wir benennen wirklich das Gleiche, wenn wir „ich“ sagen.

Was für ein Unterschied. Dein Ich und mein Ich – vereint dort, wo alles Ich ist, vereint mit allen Menschen der Welt.

Hier sind wir alle du und und stehen uns gegenüber.

Ich sind wir gemeinsam. Da ist Frieden.

Hab ich´s als Kind gespürt? Vielleicht, ich weiß es nicht mehr.

Noch stolpere ich über das Ich, aber langsam geht es vorwärts.

Jedes Mal, wenn ich ich sage, spüre ich, ich wende mich dem zu, wo alle Menschen herkommen, auch wenn sie auf der Erde so verschieden erscheinen. Ich verstehe sie nicht, sie sind mir fremd, unsere Wege sind verschieden, aber ich erlebe unsere Gemeinsamkeit und bin glücklich.

Schon immer haben neue Gedanken die Welt verwandelt. Meine Welt, mein Leben, was mir passiert verändert sich gerade sehr.

Joachim Löwning hat uns diese schöne Geschichte zugeschickt und schreibt: Ich habe lange als Kunstherapeut in der Heilpädagogik gearbeitet. Da war ich mit Malen und Plastizieren unterwegs. Bin jetzt mit noch 66 Jahren in Rente. Vor 2 Jahren starb meine Frau an Krebs. Durch sie lernte ich die Newslichter kennen. Wir beschäftigten uns viel mit dem Sterben, Tod und was dann vielleicht sein kann. Aus dem vielleicht wurde für mich in letzter Zeit immer mehr ein sichereres Erleben. Zumindest für mich selbst. Auch wenn ich weiss, dass das mein Erleben ist, versuche ich immer mehr, es mit anderen zu teilen. Auch um Reaktionen zu bekommen, egal welcher Art. Bis 2013 lebte ich der Arbeit wegen am Bodensee, dann zog ich zu meiner späteren Frau nach Berlin. DANKE Joachim fürs teilen!

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17 Kommentare zu “Stolperworte
  1. Miriam sagt:

    Lieber Joachim, dank dir für dein Erleben, dein Teilen!

    Ich bin wie du auch tief verbunden mit Worten und dem, was sie in sich tragen. So freut’s mich, deinen feinen Text zu lesen. Die Tiefe darin genieße ich.

    Zum WunderBAR mag ich dir gern meinen Zugang erzählen. Auch ich war vor einer Weile gestolpert darüber. Erst schien es mir in sich widersprüchlich. Als würde es aussagen OHNE Wunder. Und dann hat es sich mir geöffnet, was es meint: das REINE, BLANKE, PURE Wunder. Ein starkes, schlüssiges Wort also doch. Nach meinem Stolpern hat es sich mir eröffnet. Und so gebrauch ich es seither SEHR gern und oft und freudig – es strahlt für mich seit dieser Einsicht sogar noch stärker als sein Geschwisterwort wunderVOLL.

  2. Gerlinde sagt:

    Wie wundervoll, die Auseinandersetzung mit den Stolperworten. Vielen Dank Joachim.
    Aus, einander, Setzung, ich stolpere. ..

  3. andrea sagt:

    sehr fein zu lesen für (m)ich am sonntagmorgen. mein geliebtes gehirn fragt sich gleich, ob das m von mich für mein steht, so dass mich ‚mein ich‘ heisst (:
    jetzt bin ich ganz wach. danke dafür und einen schönen tag euch allen.
    andrea
    ps. über das wunderbar bin ich auch schon oft gestolpert

  4. Viola sagt:

    Guten Morgen Joachim,

    je mehr ich in mein Alter hinein reife, je mehr, entdecke ich die unzähligen Zwei –
    oder Mehrdeutungen unserer schönen deutschen Sprache…
    Bis zu meinem 36 Lebensjahr – konnte ich nicht “ Frau meiner Worte sein. “ Ich war SPRACH- gehemmt…Um so mehr habe ich heute die gr.Freude, mich im Fluß der Rede-wendungen aalen zu können…
    Einen schönen Sonntag
    Viola

  5. Anne sagt:

    Wunder-schön die Stolperworte genauer anzusehen! Danke für die Anregung. Übrigens, zu wunder-bar fiel mir als erstes eine Bar voller Wunder ein. Statt Cocktails gibts dort eine Wundertüte oder so ähnlich…
    Einen Sonntag voller Wunder wünsche ich euch Allen,
    Anne

  6. Gilla sagt:

    So mache ich das auch! Seitdem ich wunderbar durch wundervoll ersetze verändert sich der ganze Satz und damit auch der Inhalt der Aussage. Ein solcher Umgang mit Sprache nimmt die Wörter ernst und geht in die Tiefe.
    Ich verdanke diese Erkenntnis meiner verstorbenen Freundin Ursula. Ich danke ihr und dem Schreiber dieser Gedanken.

  7. Gabriele sagt:

    Danke lieber Joachim,

    man könnte das Erleben des Wortes auch als Wortschmecken oder psycho-somatisches Erfassen oder Wort – Durchatmen
    be – umschreiben…
    wenn es mit ALLEM, was für uns verfügbar ist er-fasst wird,
    kann so etwas WUNDERVOLLES geschehen,

    DANKE fürs Teilen, es ist so inspirierend, von dir zu lesen –
    und Danke auch den vielen Kommentaren, es ist wie ein vielstimmiges ECHO von allen

    Gabriele

  8. Almut Lichte sagt:

    Danke, Joachim,
    wie wunder-voll, denn es gibt so tolle Worte… Ich denke oft darüber nach, z.B. Selbstermächtigung. Welche Kraft und Stärke steckt dahinter. Alle Worte mit Selbst davor, bringen mich zu mir zurück und in die Unabhängigkeit. Welch ein Segen.
    Und nun noch ein Wort, dass ich verkannt habe: Gleichgültigkeit! = Alles hat gleiche Gültigkeit! Für mich ein Wunder, die neue, alte Bedeutung.
    Herzliche Grüße
    Almut

  9. Soreia sagt:

    Vielen Dank Joachim und die vielen Kommentare,
    wie wunderbar, dass es so viele Menschen gibt, die das Geheimnis der Sprache wieder entdecken.
    No na bin auch ich über das Wort wunderbar gestolpert. Barfüssig bedeutet nicht ohne Füsse, sondern ohne eine Bedeckung wie Socken oder Schuhe, barhäuptig bedeutet nicht ohne Kopf, sondern ohne Kopfbedeckung. Und so bedeutet wunderbar für mich nicht ohne Wunder sondern unbedeckte Wunder, Wunder deren man überall ohne Schwierigkeiten ansichtig sein kann, weil sie sich völlig unbedeckt jedem zeigen, der sie sehen will.
    Ganz viel Liebe aus Wien
    Soreia

  10. Joachim Löwning sagt:

    Ich schreib jetzt mal selber einen Kommentar. Zunächst mal möchte ich euch allen für das gemeinsame Stolpern danken. Und für die vielen Hinweise zu wunderbar. Das hat mich sehr gefreut. Wenn ich zu dem ich auch noch ein paar bekommen könnte, würd ich mich noch mehr freuen. Das ist für mich zur Zeit das Wichtigste. Deshalb noch mal mein spezieller Dank an Andrea

  11. Martin sagt:

    Wirklich toll geschrieben, Joachim! Unsere (und allgemein) Sprache ist sehr exakt, wir haben nur leider den Bezug dazu verloren. Umso schöner ist ein solcher Beitrag, der einem dies wieder verdeutlicht. Schön finde ich auch das englische Gleichniss „present“ für Präsenz/ das „Jetzt“ und gleichzeitig Geschenk. Sehr viel-sagend!

  12. Alexander sagt:

    Lieber Joachim,
    auch ich bin dank-bar für deine(n) Text(e)! Balsam und Nahrung für feinsinnige Menschen 🙂
    Wenn ich an Worten hängenbleibe, schaue ich nach einem ersten ganz in mir dem Wort und seinem Klang Nachlauschen gerne in die Wortgeschichte –> -bar: »ursprünglich ein selbständiges Verbaladjektiv mit der Bedeutung ‘tragend, fähig zu tragen, hervorzubringen’« [Quelle: http://www.dwds.de/wb/etymwb/-bar>%5D In dem Falle hat es, und auch andere Kommentare hier, das »wunderbar« zurückgebracht zu mir, das ich, ähnlich dir, zwischenzeitlich nicht mehr benutzen mochte. Nun ist es wieder da, wie wunderbar.
    Deine Entdeckungen zum Ich beschäftigen mich. Diese Sicht hatte ich vordem noch nie eingenommen. Sehr spannend und erstmal irritierend. Da bemerke ich eine doch deutliche Konditionierung, dieses Ich dem sogenannten Ego gleichzusetzen, das auch in mir keinen so guten Ruf hat. Und vielleicht steckt da auch ein simpler Logikfehler drin wie beim -bar?
    Alexander

    • Joachim Löwnig sagt:

      Danke dafür. Was diese Gedanken zum Ich für mich so wichtig machen sind die vielen neuen Möglichkeiten, die entstehen, wenn beim Ichsagen mitschwingt, dass wir uns damit nicht absetzen von allen anderen sondern uns verbinden. Lg,Joachim

  13. amirana sagt:

    HeartSongs 🙂

    Liebe Grüße 🙂
    Amirana

  14. Felix sagt:

    Danke Joachim und Allen. Weil NLisch meine Mutter-Sprache ist, habe ich Deutsch „lernen“ müssen. So sehe ich jedes Wort kritischer. Und vergleiche es auch mit anderen Sprachen. Mich=Mein Ich/Dich=Dein Ich. Ohne „Ego“ Alexander wäre ich nix. Mein Ego macht mein Ich au-tark/stark.:0))

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