Jenseits des körperlichen Todes

Bild von kordula vahle auf Pixabay

An dem Tag, an dem meine Mutter starb, schrieb ich in meinem Tagebuch: “ Ein schweres Unglück meines Lebens ist angekommen.“ Ich litt mehr als ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter. Aber eines Nachts, im Hochland von Vietnam, schlief ich in der Hütte in meiner Einsiedlung. Ich habe von meiner Mutter geträumt. Ich sah mich mit ihr sitzen und wir hatten ein wunderbares Gespräch. Sie sah jung und schön aus, ihr Haar fließen runter. Es war so angenehm da zu sitzen und mit ihr zu reden, als wäre sie nie gestorben. Als ich aufwachte, waren es ungefähr zwei morgens, und ich spürte sehr stark, dass ich meine Mutter nie verloren hatte. Der Eindruck, dass meine Mutter noch bei mir war, war sehr deutlich. Damals habe ich verstanden, dass die Idee, meine Mutter verloren zu haben, nur eine Idee war. Es war in dem Moment offensichtlich, dass meine Mutter immer in mir lebt.

Ich öffnete die Tür und ging nach draußen. Der gesamte Hügel wurde im Mondlicht gebadet. Es war ein Hügel mit Teepflanzen bedeckt, und meine Hütte wurde auf halber Strecke hinter dem Tempel aufgestellt. Langsam im Mondlicht durch die Reihen der Teepflanzen, merkte ich, dass meine Mutter noch bei mir war. Sie war das Mondlicht, das mich streichelte, wie sie es so oft getan hatte, sehr zart, sehr süß… wunderbar! Jedes Mal, wenn meine Füße die Erde berührten, wusste ich, dass meine Mutter bei mir war. Ich wusste, dass dieser Körper nicht meiner ist, sondern eine lebendige Fortsetzung meiner Mutter und meines Vaters und meiner Großeltern und Urgroßeltern. Von all meinen Vorfahren. Diese Füße, die ich als „meine“ Füße gesehen habe, waren eigentlich „unsere“ Füße. Gemeinsam hinterließen meine Mutter und ich Fußabdrücke im feuchten Boden.

Von diesem Moment an existierte die Idee, dass ich meine Mutter verloren hatte, nicht mehr. Alles, was ich tun musste, war auf die Handfläche meiner Hand zu schauen, die Brise auf meinem Gesicht oder die Erde unter meinen Füßen spüren, um mich daran zu erinnern, dass meine Mutter immer bei mir ist, jederzeit verfügbar.

Thich Nhat Hanh

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5 Kommentare zu “Jenseits des körperlichen Todes
  1. Rafaela sagt:

    Wunderschön 🙂

  2. Rolf Eder sagt:

    WUNDERbar! Danke für’s Teilen.

  3. hannerose sagt:

    💖

  4. Carola sagt:

    Sooo schön! Danke!

  5. Petra sagt:

    das ist so schön…danke für die wunderbaren Zeilen. Genauso spüre ich das mit meinem lieben Sohn, der krank war und nun verstarb. Er ist immer bei mir, weil wir uns so unendlich nahe waren.🧡 Begleitet werde ich nun auch von meiner verstorbenen Großmutter väterlicherseits, die ich wirklich sehr mochte.

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