Gute Geschichte: Auf die Vision kommt es an

Foto Pixabay

Tief im Mittelalter ging ein Mann auf einer verstaubten Straße seines Weges. Wo immer er auf Menschen stieß, blieb er stehen und fragte sie, was sie arbeiteten und für wen sie es taten. Denn seit geraumer Zeit wusste er um sein Leben nicht mehr Bescheid, wusste nicht mehr, was er tun sollte und wofür. Des Nachsinnens müde, zog er aus, um von anderen Menschen zu hören, was sie bewegte.

Auf diese Art wollte er in Erfahrung bringen, was ihm verloren gegangen war. Da stieß er auf einen Mann, der am Wegrand saß und ganz gebückt auf einen Stein einschlug.

Der Wanderer blieb stehen und schaute ihm lange zu. Da er seine Tätigkeit nicht verstand, fragte er ihn: „Freund, lange schon schaue ich dir zu, wie du behend auf diesen Stein einschlägst. Allein es mangelt mir an Verständnis. Freund, kannst du mir, einem Fremden und deines Handwerks Unkundigen, verraten, was du da machst?“ – Ohne in seiner Tätigkeit innezuhalten, murmelte der Mann missmutig in seinen Bart: „Du siehst alles. Ich behaue einen Stein.“

Mit trüben Gedanken zog der Mann weiter. „Was ist das für ein Leben“, dachte er bei sich, „die ganze Zeit Steine zu behauen?“ Da seine Verwirrung nun noch größer war, betrachtete er es als ein Glück, als er wenig später wieder einen Mann da sitzen sah, der emsig auf einen Stein einschlug, in der gleichen Art wie zuvor der andere Mann. Auf ihn ging der Wanderer zu und fragte ihn sogleich: „Freund, wozu schlägst du auf diesen Stein?“ – Der Mann, etwas erschrocken von der unerwarteten Frage, antwortete nach einigem Zögern: „Siehst du nicht, Fremder, ich mache Ecksteine!“

Betroffen ob seiner Unwissenheit setzte der Wanderer seinen Weg fort. Die Verzweiflung in ihm wuchs, denn er konnte sich nicht abfinden mit dem, was er gesehen hatte. Sollte das ganze Glück des Lebens darin bestehen, Steine zu behauen oder Ecksteine zu machen? In der Sorge seines Herzens versunken, hätte er beinahe übersehen, dass er wieder an einem Mann vorbeigekommen war. Auch dieser saß am staubigen Wegrand und schlug auf einen Stein ein, nach der Art, wie die beiden anderen Männer. Der Wanderer blieb stehen und prüfte voller Staunen, was dieser Mann tat. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass auch dieser Mann mit derselben Fertigkeit wieder auf einen Stein einschlug, ging er langsam auf ihn zu und richtete seine Rede, die er nicht weiter zurückhalten konnte, an ihn und fragte: „Freund, sag mir: Was ist deine Tätigkeit? Behaust auch du nur Steine, oder machst du gar Ecksteine?“ – „Nein, Fremder“, antwortete der Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn, „siehst du denn nicht? Ich baue eine Kathedrale!“

Nach Roberto Assagioli (* 27. Februar 1888 in Venedig; † 23. August 1974 in Capolona, Arezzo) italienischer Psychiater und Psychoanalytiker.

Foto: Sagrada Familia Barcelona

„Ein Steinhaufen hört auf, ein Steinhaufen zu sein, sobald ein einziger Mensch ihn betrachtet, der das Bild einer Kathedrale in sich trägt.“
―Antoine de Saint-Exupery

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Ein Kommentar zu “Gute Geschichte: Auf die Vision kommt es an
  1. Sylvia sagt:

    Eine wunderbare Geschichte – ja, die Vision zu haben 🙂

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