Die ganze Fülle des Sommers

Ein Herbstwochenende. Meine betagte Tante besucht den Sonntagsgottesdienst. Anschließend wandert die kleine agile Frau weiter. Sie besucht ihre Freunde, ein Paar. Beide stehen in den Herausforderungen ihres alt Werdens. Ihre Freundin hat sich nach innen gekehrt, Demenz ist ihre neue Form des Da- und Fortseins. Ihr Freund ist erschöpft von den Anforderungen der Pflege seiner Frau. Auch er müde in diesem Abenteuer, das sie da beide durchschreiten.

Doch wie das Paar besuchen, wenn niemand öffnet. Es ist Mittagszeit. Eine sitzt kaum mehr beweglich in ihrem Rollstuhl. Einer ist offenbar nach dem vor Tau und Tag zur Morgenroutine einrückenden Pflegedienst noch einmal ins Bett gefallen. Schläft tief und fest. Meine Tante versucht dies und das. Klingelt. Klopft. Spaziert ums Haus und ruft. Eine Weile bleibt alles still. Doch dann öffnet sich ein Fenster. Der Enkelsohn der Freunde, der oben im Haus wohnt, hat sie gehört und macht ihr auf.

Langes Sitzen und Hand halten mit der Freundin. Wenig sprechen. Kirchenlieder summen. Sie schließt die Augen. Summt mit. Irgendwann erscheint zerzaust der Freund. Und verschwindet wieder. Für sein Frühstück, für das noch keine Zeit war. Es dauert lange, bis er wiederkehrt. Nach eineinhalb Stunden ist er wieder da. So teilen sie noch Zeit zu dritt.

Als sich meine Tante auf den Weg nach Hause macht, fragt sie nach einer Schere und einer Tüte. Sie hat beim Wandern ums Haus entdeckt, dass winzig kleine, tiefschwarze Weintrauben am Spalier stehen. Hat die kleinen fruchtigen Trauben voller Kerne gekostet. Sie möchte gern und darf sie ernten, wandert mit dem gefüllten Beutel nach Hause. Um Gelee zu kochen. Ein Glas wird sie ihren Freunden bringen.

Sie erwägt Ideen am nächsten Tag, wie sie an den Saft der Trauben kommen kann. Die klein sind, wie Johannisbeeren. Entscheidet sich, sie mit den Fingern einzeln von ihren Ästchen zu lösen. Kocht sie mit sehr wenig Wasser kurz auf. Weil sie auch das Fruchtfleisch möchte für ihren Gelee, beginnt sie, die Masse durch ein feines, aber großes Sieb zu drücken. Mit der Außenseite einer Müslischale. Wieder und wieder. Bis sie auf diese Weise einen ganzen Liter des kostbaren Fruchtsaftes erobert hat. Der tiefdunkel die ganze Fülle des Sommers in sich trägt.

Sieben mit Traubengelee gefüllte Gläser stehen um sie herum, als sie mir am Telefon davon erzählt. Die Deckel, sagt sie, haben schon geknackt. Auch sie strahlt die ganze Fülle des Sommers aus. Die sie gesehen hat, geerntet und als Kostbarkeit für Herbst und Winter in Gläser gefüllt.

Wundersam genug dies: seit Jahren vermisst meine Tante ihren Geruchs- und Geschmackssinn. Nur ganz selten erlebt sie einen Hauch davon. Diese Momente feiert sie. Ist neugierig herauszufinden, wie sie sich diese beiden Sinne wieder erobern kann. Und: sie kann sich erinnern. An den Geschmack und Geruch reifer Trauben. Und das zählt.

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Ein Kommentar zu “Die ganze Fülle des Sommers
  1. Wim Lauwers sagt:

    Paßt zur vorigen Geschichte: Jede*r tut, was sie/er/es kann. Getrieben von der LIEBE. Dann bleiben wir auf Kurs.

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