NovemberZeit – AhnenZeit

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Von Dorothee Kanitz. Sie sind im Wald … wenn ich spazieren gehe, im herbstlichen Sonnenschein, staunend über die goldenen Blätter, wenn das Laub unter meinen Füßen raschelt und ich mich daran freue wie als Kind, wenn es von den Bäumen tropft und die Eicheln fallen, erst recht, wenn die Feuchte wie Nebel aufsteigt … dann wispern sie um mich.

Ich höre keine „echten“ Stimmen, ich sehe keine Bilder – doch sie umgeben mich, ich fühle und spüre es, ohne sagen zu können, wie und woran. Meine Ahn*innen sind da. Um mich. Mit mir. 
Und ich fühle mich wohl mit ihnen, getragen, gesegnet, gesehen.

Mein Gefühl: 
Sie freuen sich an mir. Sie möchten, dass ich weiter meinen Weg gehe, den Seelenweg, den, der mich glücklich macht und strahlen lässt, endlich.
Die meisten von ihnen konnten das nicht. 
Und sie wünschen so sehr, dass ich es nicht nur kann, sondern tue. Wie wunder-voll ist das!

Ich kenne die wenigsten von ihnen. Meine Eltern, die Eltern meiner Mutter, die Mutter meines Vater, den Großvater meiner Mutter – die habe ich kennengelernt. Und habe ein Bild von ihnen. Wie begrenzt auch immer.

Die anderen … waren längst tot, als ich auf die Welt kam. Und doch wäre ich ohne sie nicht hier.

Mein Großvater väterlicherseits wusste nicht einmal, dass er einen Sohn hatte. Er zog im August 1914 als Einundzwanzigjähriger in den Krieg, frisch verheiratet, die Frau hochschwanger. Als mein Vater Ende August geboren wurde, war sein Vater in Frankreich, wo er wenig später „fiel“. 
Nach einem Monat an der Front. 
Das Bild, dass meine Oma ihm schickte, von ihr mit dem gemeinsamen Sohn, kam zurück, ohne dass er es je gesehen hatte.

Wie dankbar ist er, dass ich ihn „sehe“, dass es weiterging, obwohl er – ungern und ohne bereit zu sein – sein Leben verlassen musste. Ein Sohn, vier Enkelkinder – eins davon ich – das bringt ihn in Frieden: er wünscht seinen Nachkommen die Lebenslust, die ihn prägte und die er nur so kurz leben durfte.

Meinen Urgroßvater mütterlicherseits habe ich noch kennengelernt, er war ein „lustiger Vogel“, mit einem Glasauge, mit dem er uns Kinder gern mal erschreckte, und einer geheimnisvollen Grube im Hof, mit großen Schätzen, von denen er uns gern erzählte. 
Wie ent-täuschend, dass es einfach die Sickergrube für das Plumpsklo war. 
Beides machte ihn in meinen Augen zu einem spannenden, wenn auch ein wenig unheimlichen Typ.

Seine Frau starb schon 1927 oder 28, kurz bevor meine Großmutter (ihre älteste Tochter) heiratete und meine Mutter 1929 geboren wurde. Sie – die Urgroßmutter – erlebte nicht mehr mit, wie sich die Zeiten so veränderten, dass ihr Mann ( Gärtner bei einem jüdischen Arzt, der ein kleines Heim für (jüdische) Menschen mit Beeinträchtigungen führte) arbeitslos wurde, weil kein „Arier“ für Judenarbeiten durfte. Auch nicht, dass der Arzt und die Bewohner „verschwanden“ und die Synagoge brannte.

Das wiederum erlebten meine Mutter und ihre Schwester hautnah mit. Mit 8 und 10 Jahren, in einer Wohnung nur 100 m Luftlinie von der Synagoge entfernt, hörte sie die Pöbeleien, das Scheppern der eingeworfenen Fenster und das Prasseln des Feuers. Sie mussten angezogen ins Bett – angezogen für den Fall des Falles, ins Bett, weil Kinder eben nicht alles mitbekommen sollen.

Und am nächsten Morgen rauchten die Trümmer, und gesagt wurde – nichts. Angst. Ohnmacht. 
Und Schweigen.

Genau wie darüber, was denn mit Peter, dem Sohn des Arztes und ein guter Spielkamerad, passiert war, der irgendwann einfach weg war. Und wenn die Mädchen – eine Zeitlang noch – die jüdischen Bewohner des Heims trafen, mit einem gelben Stern, und stumm – „Ja, kennst du mich denn nicht mehr?!“ – dann wurde auch das mit Schweigen zugedeckt.
Und wieder Krieg. Meine Großeltern und mein Vater erlebten jeweils zwei Kriege, meine Mutter „nur“ einen. Den zweiten Weltkrieg überlebten sie (also meine vier Großeltern und meine Eltern), und doch starb etwas in ihnen.

Kriegsende, Schuld und Schuldgefühle, wieder Schweigen, als nach und nach das Ausmaß der Verbrechen und des Holocaust deutlich wurde. Ein geteiltes Deutschland. Meine Mutter, mit 18, im Westen, die Eltern und Geschwister im Osten, nach der Währungsreform gabs kein Geld von Zuhause mehr, und die Ausbildung war noch nicht abgeschlossen.

Mein Vater, zunächst begeisterter Soldat, ganz wie sein Vater im 1. Weltkrieg, erlebte die Abenteuer, um derentwillen er in den Krieg gezogen war – Afrika, Griechenland, Kreta, am Ende Russland. Er erzählte später eher von den schönen kulturellen Stätten wie der Akropolis, manchmal von dem Flugzeugabschuss, als sein Fallschirm erst sehr spät aufging und sein ganzes Leben an ihm vorüberzog. Einmal sagte er auch „im Krieg tut man Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte“, was mich sehr erschüttert hat. Doch nachzufragen kam irgendwie nicht in Frage.

(Meine Schwester reiste später auf Kreta und suchte die Spuren der Wehrmacht … Schuld. Scham. Dankbarkeit, dass wir es nicht waren.)

Erst 1950 kam er aus russischer Gefangenschaft; mein Vater, der Schreiberling, hatte 5 Jahre in einem Bergwerk verbracht. Immerhin überlebte er, anders als viele andere.
1956 heirateten meine Eltern, wir Kinder wurden 1957, 58, 60 und 63 geboren.

Wir wuchsen „fromm“ auf, mein Vater hatte wohl das Gefühl, einiges wiedergutmachen zu sollen, meine Mutter kam aus einer pietistischen Familie und kannte es nicht anders.
So lernten wir nur die Ahnen kennen, die noch lebten (wenn auch z.T. hinter dem „eisernen Vorhang“), und gleichzeitig einen „guten Gott“, der zwar eindeutig Männer als seine Freunde bevorzugte, doch auch mit braven Frauen freundlich war.

Tja, und so war ich lieb. (Nicht nur, doch ziemlich oft.)

Von dem breiten Wurzelgeflecht meiner Ahn*innen wusste ich nichts – dabei hat jede*r von uns in etwa 700 Jahren (also 29 Generationen) eine Milliarde Verwandte/ Ahn*innen – unvorstellbar! Was für ein Geflecht … wie tief reichen meine Wurzeln also!

Und so gehe ich durch den Wald und meine Ahn*innen – die, die ich gekannt habe und die unendlich vielen anderen, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende – singen ein anderes Lied, eins von wilder Weiblichkeit, ekstatischen Trommeln und Tänzen ums Feuern, von Frauenkreisen, in denen weibliche Macht und Kraft weitergegeben wurde. Von Frauen und Männern, die ihren Seelenweg gehen durften, weil das wichtig ist für die Menschen und die Erde. 
Lange ist es her.

Sie singen auch von Männern und Frauen, die ihre wahre Natur verleugnen mussten, um einem Bild zu entsprechen, das menschengemacht und für gottgewollt erklärt wurde. Von Krieg und Vergewaltigung, gegen das Leben, die Natur, die Erde, die Frauen, die Männer, und immer auch die Kinder. Bis heute.

November. Ahnen-Zeit. Sie wünschen sich so, dass ich – dass wir – wieder wild und weise, (natur-) verbunden und voller Liebe (ins Leben) sein können. Ja, ich will. 
(Ist das mein Dank?)

Ich bin bereit. Bereit für meine Kraft, meine Freude, mein Leben.

Und so bringe ich das Flüstern und Wispern meiner Ahn*innen zu Papier. Webe es ein in mein Leben, meine Spaziergänge, meine Träume. Für die, die kommen.

Ich bin Dorothee Kanitz, Auf dem Weg zur wilden, weißen Frau, Mutter und Großmutter. Mein beruflicher Weg hat mich von einer kaufmännischen Ausbildung zum Theologiestudium und dann 25 Jahren als Pastorin geführt. Jetzt begleite ich Meditierende, feiere Jahreskreisriruale und biete bei Bedarf rituelle Begleitung zu Lebensfesten (Willkommensfeste, Abschiedsfeiern u.a.) an. Und nehme mir viel Zeit mit und in der Natur. Und wenn ich da Impulse bekomme, dann schreibe ich auch gern mal.
www.meditation-spirit-ritual.de

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10 Kommentare zu “NovemberZeit – AhnenZeit
  1. Liebe Dorothee!
    Gänsehaut pur! Danke dafür, dass du niederschreibst, was uns alle berührt, ob bewusst oder nicht.
    Als Kriegsenkelin habe ich das Schweigen und die Scham hautnah erlebt, bin erst spät in die Geschichte meiner Ursprungsfamilie eingetaucht und bin dankbar, dass ich erfahren habe, was mich so tief geprägt hat (https://www.wordpress.imke-rosiejka.de/gedankensplitter/ und hier die Geschichte „In Verbindung“).

    „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagten meine Großeltern immer – eine schwache (irgendwie auch verständliche) Ausrede, um die eigne schmerzhafte und schambesetzte Geschichte nicht in den Blick nehmen zu müssen.
    Es wird Zeit, die Schleier zu lüften und wieder in das Leben einzutauchen, für das wir hier sind! Friedlich und in Verbindung!

    Herzensgrüße
    Imke

    • Liebe Imke, danke für deinen Kommentar und deine Geschichte in dem Link (und für etliches andere, was ich hier von dir gelesen habe). Und genau: es wird Zeit, in das Leben einzutauchen, für das wir hier sind. Zeit, sichtbar zu werden mit dem/der, die wir sind. In Verbindung miteinander und allem, was lebt. In Vorfreude auf mehr von dir, Dorothee

  2. Liebe Dorothee,

    Dein Text hat mich so sehr berührt! Vielen Dank dafür 🙏🏻
    Ich freue mich schon darauf mehr von der “wilden Frau” zu lesen.

  3. Evelin sagt:

    Dorothee, wie wunderschön Du Dich zu jedem, zu dem Du einen Ansatzpunkt hast hinbegibst, das Fluidum des Lebensweges erforscht und zu Dir nimmst, den Ahnenfaden somit aufnimmst und bestärkst. Ja, so habe ich es auch gemacht und tue es immer wieder. Und ja, der Wald ist ein guter Ort, um sie zu spüren und Raum und Zeit zu überbrücken. Danke für diesen schönen Beitrag.

  4. Liebe Dorothee, ich verneige mich vor Deiner alten Geschichte und Deinen Ahnen und feiere Dich und deine Neue Geschichte aus vollem Herzen :-))))

  5. Angelika Emmerinck sagt:

    Die Welt liegt Dir zu Füssen, liebe Dorothee. Jedes Deiner Worte löst eine Vibration aus, bringt die Welt zum Schwingen. Mögen Dich diese Wellen inspirieren … Von Herzen Angelika

  6. Wim Lauwers sagt:

    Danke Dorothee, ich habe ein Ahn*innenaltar gemacht mit Bildern von meiner Mutter, meinem Bruder, meiner Cousine und meinen beiden Kindern. So sind sie immer präsent. Und, du hast Recht: sie freuen sich sehr, wenn wir glücklich sind und die LIEBE leben und verbreiten.

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