Wenn die Sehnsucht größer wird als die Angst

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Diese außergewöhnliche Geschichte von der Maus, die das Rauschen des Lebens hört und sich auf den Weg macht ihrer Sehnsucht zu folgen, stammt aus dem Buch: „Sieben Pfeile“ von Hyemeyohsts Storm.

Die Geschichte von Springende Maus

Es war einmal ein Mäuserich. Er war ein vielbeschäftigter Mäuserich, der überall herum suchte, das Gras mit seinen Barthaaren betastete und alles betrachtete. Er war vielbeschäftigt, wie alle Mäuse, beschäftigt mit Mäusesachen. Doch dann und wann hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Dann erhob er seinen Kopf, kniff die Augen fest zusammen, sträubte seine Barthaare und wunderte sich.

Eines Tages eilte er zu einem benachbarten Mäuserich und fragte ihn: „Mein Bruder, hörst du auch das Rauschen in deinen Ohren?“ „Nein, nein“, antwortete der andere Mäuserich, ohne seine vielbeschäftigte Nase vom Boden zu heben. „Ich höre nichts. Ich bin jetzt beschäftigt. Sprich später mit mir.“ Er stellte einem anderen Mäuserich die gleiche Frage, doch dieser sah ihn ganz seltsam an. „Bist du nicht richtig im Kopf? Was für ein Geräusch?“ fragte er und schlüpfte in ein Loch im Stamm eines umgestürzten Baumes.

Der kleine Mäuserich zuckte mit seinen Barthaaren und beschäftigte sich wieder, fest entschlossen, die ganze Sache zu vergessen. Aber da war schon wieder dieses Rauschen. Es war undeutlich, sehr undeutlich, aber es war da! Eines Tages entschloss er sich, dieses Geräusch ein wenig zu erforschen.

Er verließ die anderen vielbeschäftigten Mäuse, lief ein kurzes Stück und horchte wieder. Da war es! Er horchte angestrengt, als ihn plötzlich jemand grüßte. „Hallo kleiner Bruder“, sagte die Stimme, und der Mäuserich sprang vor Schreck fast aus seiner Haut. Er krümmte Rücken und Schwanz und wollte davonlaufen. „Hallo“, sagte die Stimme wieder. „Ich bin es, Bruder Waschbär.“

Und tatsächlich er war es! „Was machst du denn hier ganz alleine, kleiner Bruder?“ fragte der Waschbär. Der Mäuserich errötete und senkte seine Nase fast bis zum Boden. „Ich höre ein Rauschen in meinen Ohren und bin dabei es zu erforschen“, antwortete er verschüchtert. „Ein Rauschen in deinen Ohren?“ erwiderte der Waschbär während er sich neben ihn setzte. „Was du hörst, kleiner Bruder, ist der Fluss.“ „Der Fluss“, fragte Mäuserich neugierig. „Was ist ein Fluss?“ „Komm mit, ich zeige dir den Fluss“, sagte Waschbär.

Kleiner Mäuserich hatte furchtbare Angst, aber er war entschlossen, sich ein für alle Mal über das Rauschen Klarheit zu verschaffen. „Ich kann zu meiner Arbeit zurückkehren“, dachte er, „nachdem diese Sache erledigt ist und möglicherweise kann dieses Ding mir in all meinen geschäftigen Untersuchungen und beim Sammeln behilflich sein. Und meine Brüder sagten alle, es wäre nichts. Ich werde es ihnen zeigen. Ich werde Waschbär bitten, mit mir zurückzukehren, dann habe ich einen Beweis.“ „Also gut, Waschbär, mein Bruder“, sagte Mäuserich. „Führe mich zum Fluss. Ich werde mit dir gehen.“

Kleiner Mäuserich ging mit Waschbär. Sein kleines Herz hämmerte in der Brust. Der Waschbär führte ihn auf fremde Pfade und kleiner Mäuserich roch den Duft von vielen Dingen, die an diesem Weg vorbei gegangen waren. Viele Male fürchtete er sich so sehr, dass er beinahe umgekehrt wäre. Endlich kamen sie zum Fluss! Er war ungeheuer groß und atemberaubend, tief und klar an manchen Stellen und trübe an anderen.

Kleiner Mäuserich war außerstande, über den Fluss zu sehen, weil der so groß war. Er brüllte, sang, schrie und donnerte auf seinem Weg. Kleiner Mäuserich sah große und kleine Stücke der Welt, die auf seiner Oberfläche fortgetragen wurden. „Er ist mächtig“, sagte der kleine Mäuserich, nach Worten suchend. „Er ist eine große Sache“, antwortete Waschbär, „aber hier, lass mich dich einem Freund vorstellen.“

An einer ruhigeren und seichteren Stelle war ein Seerosenpolster, leuchtend und grün. Darauf saß ein Frosch, fast so grün wie das Polster, auf dem er saß. Der weiße Bauch des Frosches stand deutlich hervor. „Hallo, kleiner Bruder“, sagte der Frosch. „Willkommen am Fluss.“ „Ich muss dich jetzt verlassen“, unterbrach Waschbär, „aber hab keine Angst, kleiner Bruder, der Frosch wird für dich sorgen.“

Und Waschbär ging weg, am Fluss entlang, wo er Nahrung suchte, die er waschen und essen konnte. Kleiner Mäuserich näherte sich dem Fluss und blickte hinein. Er sah eine verängstigte Maus dort widergespiegelt. „Wer bist du?“, fragte kleiner Mäuserich das Spiegelbild. „Hast du keine Angst so weit draußen im großen Fluss?“ „Nein“, antwortete der Frosch. „Ich habe keine Angst. Mir wurde bei meiner Geburt die Gabe gegeben, sowohl auf dem Fluss als auch in ihm zu leben. Wenn Wintermann kommt und diese Medizin einfriert, kann ich nicht gesehen werden. Aber während der ganzen Zeit, in der der Donnervogel fliegt, bin ich hier. Um mich zu besuchen, muss man kommen, wenn die Welt grün ist. Ich, mein Bruder, bin der Hüter des Wassers.“ „Erstaunlich“, sagte endlich kleiner Mäuserich, wieder nach Worten suchend. „Möchtest du etwas Medizinmacht haben“, fragte Frosch. „Medizinmacht? Ich?“, fragte kleiner Mäuserich. „Ja, ja! Wenn es möglich ist.“ „Dann duck dich so tief du kannst und dann spring so hoch wie du dazu imstande bist. Du wirst deine Medizin bekommen!“, sagte Frosch.

Kleiner Mäuserich tat, was man ihn geheißen hatte. Er duckte sich so tief er konnte und sprang. Als er es tat, sahen seine Augen die Heiligen Berge. Kleiner Mäuserich konnte kaum seinen Augen trauen. Aber das waren sie! Dann aber fiel er zurück und landete im Fluss! Kleiner Mäuserich bekam Angst und krabbelte zum Ufer zurück. Er war nass und fast zu Tode erschrocken. „Du hast mich getäuscht“, schrie kleiner Mäuserich den Frosch an. „Warte“, sagte Forsch. „Du bist nicht verletzt. Lass dich durch deine Angst und deine Wut nicht blenden. Was hast du gesehen?“ „Ich“, stotterte Mäuserich, „ ich, ich sah die Heiligen Berge!“ „Und du hast einen neuen Namen!“, sagte Frosch. „Er ist Springende Maus.“ „Ich danke dir, ich danke dir“, sagte Springende Maus und dankte ihm abermals. „Ich möchte zu meinem Volk zurückkehren und ihm über das, was geschehen ist, berichten.

„Geh. Geh also“, sagte Frosch. „Kehre zu deinem Volk zurück. Es ist leicht, es zu finden. Behalte das Geräusch des Medizinflusses in deinem Rücken. Gehe in entgegengesetzter Richtung zu dem Geräusch und du wirst deine Mäusebrüder finden.“ Springende Maus kehrte zur Welt der Mäuse zurück. Aber er fand Enttäuschung. Keiner hörte ihm zu. Und weil er nass war und er keinen Weg wusste, dies zu erklären, denn es hatte nicht geregnet, hatten viele der anderen Mäuse Angst vor ihm. Sie glaubten, er sei aus dem Munde eines anderen Tieres ausgespuckt worden, das versucht hatte, ihn zu fressen. Da wussten sie alle, dass, wenn er für das Tier, das ihn begehrt hatte, keine Nahrung gewesen war, er auch für sie Gift sein musste. Springende Maus lebte wieder unter seinem Volk, aber er konnte seine Vision von den Heiligen Bergen nicht vergessen.  …..

Teil 2 folgt Morgen! Danke Heide Steiner fürs Finden 🙂

Buchtipp: „Sieben Pfeile“ von Hyemeyohsts Storm zeigt nicht eine andere Welt – das Buch selbst ist eine andere Welt, in die wir – lesend – eintreten. Bilder und Text bieten nicht nur hinreißende Schönheiten zur Betrachtung und Kontemplation, sondern erschließen – zumal für uns Europäer – einen neuen Raum der Erfahrung. Und dieser Raum enthält nicht mehr und nicht weniger als dies: Möglichkeiten einer besseren Erfahrung von uns selbst. Heute ist viel von „alternativem Leben“ die Rede. In Sieben Pfeile ist ein Angebot darauf konkretisiert. Nicht das „Weltbild“ eines bestimmten Indianerstamms übt diese Faszination aus; das wäre, für sich genommen, schwer übertragbar; sondern ein anderes Verhältnis zur Natur, zur Natur in uns, wird eröffnet: Mitmenschlichkeit in der Brüderlichkeit der Naturgeschöpfe. Der Begriff der Mitmenschlichkeit wird präzisiert (und erweitert) als Angebot auf Mit-Tierlichkeit. Man probiere einmal die Rolle des tapferen, opferbereiten und zugleich in der Selbstsuche nicht nachlassenden „Springenden Maus“ als eine Form der Identitätsfindung! Dieses Buch fasziniert nicht nur, es belebt. So kann es mit seiner Fremdheit uns Europäer lehren, die Verfremdung, die wir an uns selbst als Wesen einer Welt der Nur-Zivilisation erleben, umzuwandeln in eine neue Vertrautheit mit uns selbst. Als „weißer Mann“ sind wir schon einmal in die Welt gegangen, die das Buch wiederaufleben lässt: als Eroberer damals und Zerstörer. Auf Einladung des „roten Mannes“, „des Menschen“, wie er sich nennt, könnten wir noch einmal darin eintreten: als Lernende, als Brüder, als Mitnatur.

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5 Kommentare zu “Wenn die Sehnsucht größer wird als die Angst
  1. Alexandra Thoese sagt:

    Ich liebe die Geschichte von springende Maus sehr. Danke fürs Erinnern 🙏🏻💛🐭

  2. Liebe Alexandra, auch bei mir war, besonderes der zweite Teil, in Vergessenheit geraten, obwohl ich sie bei jeder Visionsfindung erzählt habe. Nun ist sie aktueller denn je. Liebe Grüße von der Mäusefrau aus Freiburg.

  3. Seit über 20 Jahren, seit meiner Visionssuche, begleitet mich diese wunderbare Geschichte. Inzwischen oft erzählt und immer wieder eindrucksvoll, spiegelt sie unser Leben. Wie oft habe ich das Rauschen gehört und mich auf die Suche gemacht-immer wieder. Danke!

  4. Agnes sagt:

    Danke! Ich hab gleich das Buch aus dem Regal geholt … ganz hinten war’s …
    Eine Wiederentdeckung nach so vielen Jahren!
    Auch ich hatte vergessen, wie die Geschichte weiter ging …
    Danke!

  5. Wim Lauwers sagt:

    Bestellt. Obwohl ich es nicht gut finde, daß hier Werbung gemacht wird.<3 <3 <3

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