LESEGLÜCK – Otfried Preußlers „Flucht nach Ägypten“

Drei Jahrgänge, drei Verlage: gebundene Ausgaben von Preußlers Meisterwerk. 1978, 1984, 2023

Als ich im vergangenen Jahr glücklich wieder eine Reise in die Welt wagen konnte, führte mich diese neu gewonnene Freiheit ins Haus meiner Großmutter. Erbaut von meinem Urgroßvater wird es heute bewohnt und gehütet von meiner lieben Tante, meiner Mutters Bruders lieben Frau. Gemeinsam feierten wir ein Wiedersehen mit Mutters Schwester, die als jüngste ihrer Geschwisterreihe nun hochbetagt noch einmal die Reise aus England in ihre alte Heimat wagte.

Gleichzeitig durfte ich weiter in alten Familienfotos und Briefen dem Leben meiner AhnInnen nachgehen. Eine reiche Fülle, aus der mir seit dem frühen Tod meiner Mutter tiefe Wurzeln zuwachsen. Ein großes Geschenk.

In der Fülle der inneren wie äußeren Bewegungen war mir ein alter Weg der Beruhigung wertvoll: abends zum Einschlafen zu lesen. Ich hatte mir kein Buch mitgebracht und so ging ich an den Bücherschrank meiner Großmutter, der in Teilen noch erhalten ist. Und nahm ein dtv Taschenbuch in die Hand. Von dem ich verdachtsweise annehme, dass ich es ihr selbst geschenkt haben könnte. Es war ungelesen, eine Großdruckausgabe. Ich kannte wohl den Autor, Otfried Preußler, nicht aber dieses Buch von ihm: „Die Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil“.

Es wurde die Quelle meiner fröhlichen Stunden abends nach intensivem Beisammensein mit der Familie. Mitten im Hitzesommer las ich dieses Buch, das durch den Böhmerwald führt. Bitterkalt, voll Schnee und Eis. Wer da unterwegs ist? Maria und Josef mit ihrem Kind. Und dem Esel. Das Meisterstück Preußlers, seine Chuzpe, mit der er den Weg ihrer Flucht nach Ägypten durch den Böhmerwald verlaufen lässt, ist nur der Rahmen für weitere Kuriosiäten, für ein geniales Schauspiel der Innensicht von Menschen und Verhaltensweisen, die mich wieder und wieder fast von meinem Matrazenlager hat rollen lassen. Vor Lachen. Da genügte es nicht, leise vor mich hin zu lächeln. Da platzte es immer mal auch aus mir raus.

In meiner Freude wollte ich dieses Buch gern zu Weihnachten verschenken und entdeckte dabei zwar diverse ältere Ausgaben, in denen es seit der Erstausgabe 1978 erschienen war. Doch im Moment meiner genussreichen Entdeckung gab es zu meinem großen Bedauern keine aktuelle Ausgabe im Buchhandel. Es schien mir, der Rechteinhaber handele regelrecht fahrlässig, ein solches Meisterstück nicht als Longseller auf seiner Backlist weiter anzubieten. Und so überlegte ich, den Verlag zu einer Neuauflage anzustifen.

Doch da kommt sie nun, ganz ohne mein Zutun, die große Wunscherfüllung: zum 100. Geburtstag von Otfried Preußler gibt es sie wieder, eine gebundene Ausgabe seiner Geschichte der Heiligen Familie, ihrer Flucht durch Böhmen. Dabei auch eine grandiose Groteske, die er mit viel Herz und Sinn für Tiefe und Zusammenhänge erzählt. Über das Damals seiner Heimat, den Böhmerwald. Damit auch dem Heute, von Politik und Verwaltung, den Kapriolen dröger Beamtenmentalität, von Menschlichkeit oder auch ihrem Mangel. Ein Kabinettstück sondergleichen.

Dass damit auch ein Wintersegen ins Lesen Einzug hält, den wir hierzulande kaum noch genießen können, ist mir als Münchner Kind eine besondere Freude: Schnee soweit das Auge reicht. So herrlich ausgemalt, dass es selbst in jenem Hitzesommer im Haus meiner Großmutter keinen Zweifel an klirrendem Frost und Eis gab, dem Maria und Josef mit ihrem Kind ausgesetzt sind. In Preußlers herrlicher Phantasie ihrer Flucht nach Ägypten.

Geradewegs durch den tief verschneiten Böhmerwald der k u k Monarchie.

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Otfried Preußler, Die Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil, erstmalig erschienen 1978, aktuelle Neuauflage im Patmos Verlag 2023, Lesebändchen Hier mit Leseprobe

Vergriffene Ausgaben der „Flucht nach Ägypten“ sind gelegentlich gebraucht zu entdecken: Edition Weitbrecht (Leinen), Piper Verlag (geb), Deutscher Taschenbuch Verlag und dtv Großdruck

Als Hörbuch gelesen von Bernhard Setzwein, musikalisch begleitet vom Duo De Clarinettes-Basses, CD, erschienen im Lohrbär Verlag 2010, lieferbar

Mir auch ein Vergnügen und eine genussreiche Lese-Reise zum Autor der vielgeliebten Kinderbücher: Otfried Preußler, Ich bin ein Geschichtenerzähler, 38 Texte aus den Jahren 1972 – 2009, Hg. von Susanne Preußler-Hirsch und Regine Stigloher, Thienemann Verlag, aktuell 3. Auflage 2013

Otfried Preußler wurde am 20. Oktober 1923 im nordböhmischen Reichenberg geboren. Nach dem Krieg und fünf Jahren in sowjetischer Gefangenschaft, kam er 1949 nach Oberbayern. Bevor er sich ganz der Schriftstellerei zuwandte, arbeitete er als Lehrer an einer Volksschule. „Der kleine Wassermann“, sein erstes Kinderbuch, wurde 1956 veröffentlicht. Otfried Preußler hat über 35 Bücher geschrieben, die in mehr als 50 Sprachen übersetzt wurden und für die er viele Auszeichnungen erhalten hat. Die weltweite Gesamtauflage seiner Bücher beträgt rund 50 Millionen Exemplare. Otfried Preußler starb am 18. Februar 2013.
https://www.preussler.de/

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2 Kommentare zu “LESEGLÜCK – Otfried Preußlers „Flucht nach Ägypten“
  1. Diane sagt:

    Danke, Danke, Danke!,

    Es grüßt ganz nah dran aus Dresden,

    Diane

  2. Susanne sagt:

    Vielen Dank für diesen Tipp, ich hatte bisher nichts von diesem Buch gehört und habe nun Lust bekommen es zu lesen, gerade jetzt zur beginnenden Winter- und Vorweihnachtszeit.

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