Weil wir so gemacht sind

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an den Moment, als unser ältester Sohn das Fahrradfahren lernte. Wir hatten ihm zunächst ein Dreirad, dann ein Laufrad und schließlich ein richtiges kleines Fahrrad geschenkt. Das Dreirad hätte er am liebsten abends noch mit ins Bett genommen. Auf das Laufrad sprang er dann einfach drauf und rannte damit unterm Hintern los. Und als er sich schließlich auf sein erstes richtiges Fahrrad setzte, fuhr er einfach.

Ich selbst lernte das Fahrradfahren mit ungefähr 5 Jahren auf dem Damenrad meiner Mutter. Mein Vater lebte nicht mehr bei uns. Meine Mutter war damit beschäftigt, ein neues Leben für uns aufzubauen. Wir hatten damals nicht viel Geld und noch keine Kinderfahrräder. Der Sattel war selbstverständlich viel zu hoch. Also übte ich, ohne dabei sitzen zu können, auf der Straße vor unserem Haus in Hangelar. Ich fiel natürlich zunächst andauernd hin, so dass meine Knie während dieser Zeit ständig ein bisschen aufgeschlagen waren. Doch das war mir egal. Ich wollte Fahrrad fahren, so wie die anderen, älteren Kinder in unserer Straße. Und ich lernte es – mit zusammengebissen Zähnen und weggedrückten Tränen.

Wenn wir erwachsen werden, und es darum geht, die Verbindung zu unserem Inneren Wesen wieder zuzulassen, dann lernen wir das so ähnlich wie wir es früher lernten, Fahrrad zu fahren: Wir üben jeden Tag ein bisschen. Und idealerweise, um uns dabei nicht ständig zu überfordern, nutzen wir sinnvolle Hilfsmittel, wie zB Meditation, Spaziergänge in der Natur oder Dankbarkeitslisten. Die wären meine Analogie zum Dreirad und zum Laufrad – einfach, klar, sicher und ausgerichtet.

Meine Analogie zum Damenfahrrad im Alleingang für mich als Fünfjährige wären alle Hilfsmittel wie Alkohol, Joints, Pornos, Beziehungen, Overworking, Overpartying, Overtalking, Overeating, Overshopping, Oversexing, Over…anything und jede andere Form von Drogen. All dies sind Möglichkeiten, uns für zumindest für eine Weile etwas besser zu fühlen. Weil wir es natürlich unbedingt wollen – das Besserfühlen. Ohne zu wissen, wie es wirklich geht. Ohne das zugeben zu können. Und vor allem, ohne um Hilfe bitten zu wollen. Und sobald wir uns besser fühlen, nähern wir uns für einen Moment unserem Inneren Wesen. Die Richtung stimmt also. Doch all diese Möglichkeiten haben Nebenwirkungen. Denn zu jedem Over…anything gehört irgendein Hang-Over – irgendeine Form von Verletzung an irgendeiner Stelle im System. Isso.

Und selbst wenn auch hier am Ende auf jeden Fall in irgendeiner Form die Erleuchtung steht – entweder durch Tod oder durch Wandlung über Zusammenbruch, und insofern dann doch immer alle Wege nach Rom führen, macht es Sinn, sanfteren und vor allem zielgerichteteren Formen der Annäherung an unser Inneres Wesen, den Vorzug zu geben.

Echt jetzt? Was kann schon schlecht daran sein, wenn man sich ein bisschen oder auch mal ganz ordentlich quält, um etwas Gutes/Wichtiges/Größeres zu erreichen? Eine wichtige Frage. Vielleicht ist nichts per se schlecht daran. Doch dahinter steht ein Gedanken- und Überzeugungsgut, das uns – wenn wir dort stehen bleiben – schlicht daran hindert, auf ein ganz neues Level von Abenteuer, Entwicklung und Co-Creation zu gelangen – und zwar solange wir noch in unseren großartigen Körpern auf diesem wunderschönen Planeten sind.

Was zB hätte ich damals als Fünfjährige noch so alles mit mir, meinen flinken Beinen, meinem Durchhaltevermögen und meiner Zeit angestellt, wenn ich das Fahrradfahren-Lernen nicht zur Bruce-Willis-Nummer für mich gemacht hätte? Ist wirklich nur das wertvoll, wofür wir mit unserem Schweiß, unserem Blut, vielleicht sogar unserer Gesundheit oder unserem Leben bezahlen? Sind WIR nur wertvoll, wenn wir genau das tun? Ich glaube, das ist einfach nur eine unserer alten Bullshit Geschichten. Und natürlich können wir sie erzählen, solange es uns nötig erscheint.

Doch wenn wir wirklich Großes, Sinnhaftes und Neues im Leben erschaffen wollen, dann dürfen wir damit aufhören, irgendjemandem einschließlich uns selbst, irgendetwas beweisen zu wollen. Wir dürfen die Alleingänge aufgeben. Und wir dürfen damit anfangen, die Dinge zu tun, die uns nähren, erfüllen, erheben, begeistern und glücklich machen. Seelengeführt. Und in co-kreativer, sich gegenseitig erhebender Gemeinschaft mit Anderen.

Einfach nur so.
Weil wir es wert sind.
Weil wir es können.
Und weil wir so gemacht sind.

PS Kein Baby auf dieser Welt hat sich jemals damit gequält, laufen oder sprechen zu lernen. Sie strahlen über beide Ohren, wenn sie damit beginnen. Und sie tun es nur für sich. Dabei gehört beides nach Aussage der Wissenschaft zu den schwierigsten, komplexesten Fähigkeiten, die wir Menschen erwerben können. Wenn wir ganz klein sind, wollen wir laufen und sprechen, ebenso wie eine Pflanze wachsen und Früchte tragen will. Einfach so.

Claudia

Claudia Shkatov
TELLING A NEW STORY

www.claudiashkatov.com
Mentoring for a New Time

 

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13 Kommentare zu “Weil wir so gemacht sind
  1. Elke sagt:

    Danke Claudia, für jedes Wort!!! 🦋🙏🏽❤️

  2. Dorothee sagt:

    Liebe Claudia, danke so sehr für die Er-Innerung. Ich kann es nicht oft genug hören und lesen: es darf leicht sein! Und gemeinsam – wie wunder-voll!
    Herzliche Grüße Dorothee

  3. Miriam sagt:

    Lichte Wachstumsfreude in diesem Morgen:

    „Ich darf die Alleingänge aufgeben. Und ich darf damit anfangen, die Dinge zu tun, die mich nähren, erfüllen, erheben, begeistern und glücklich machen. Seelengeführt. Und in co-kreativer, einander gegenseitig erhebender Gemeinschaft mit Anderen. – Ja, ich will. Weil ich so gemacht bin.“

    Ich spring aus alten Ängsten. Mitten rein ins Ich. Bin. So gemacht.

    Dank dir, Claudia!

  4. Gabriele sagt:

    Ist es nicht einfach wundervoll, nach allden Bruce-Williams Nummern schließlich „aufzugeben“.
    Ohne diese, wäre es nicht halb so schön, Danke!
    Ich erleben es gerade wieder und wieder in deinen Worten.😍
    Und es wird weitergehen, freiwillig im „Einfach so!“

  5. Miriam sagt:

    Les eben vergnügt die Worte „I decided that my twin flame is COMMUNITY“ im Kommentar unter einem feinen Lee-Harris-Interview. Es wärmt und stärkt mich Menschenwesen, mich so vielfältig in alten wie dem Schritt in die NEUEN Geschichten verbunden zu erleben. Die weiterführen. Über alte Begrenzungen hinaus.

    „Ich hab entschieden, dass mein Zwillingsfeuer GEMEINSCHAFT ist.“

  6. Anne sagt:

    „Ist wirklich nur das wertvoll, wofür wir mit unserem Schweiß, unserem Blut, vielleicht sogar unserer Gesundheit oder unserem Leben bezahlen? Sind WIR nur wertvoll, wenn wir genau das tun?“
    Ja, das beschreibt unsere Leistungsgesellschaft. Wie gut, dass wir das nun loslassen dürfen, um uns auf uns und auf das zu besinnen, was im Leben wirklich wichtig ist: Liebe und Gemeinschaft. Übrigens, ich habe auch in Hangelar gewohnt 🙂

  7. Meike sagt:

    )°( )°( )°(

  8. Ute sagt:

    Danke liebe Claudia 🤝

  9. Elke Marion sagt:

    🙏Danke, liebe Claudia,
    ich lese dich sehr gerne.
    Kann oft ganz viel nachempfinden ✨🍀

  10. caro sagt:

    man kann den text nicht oft genug lesen: alles ist da, was wir brauchen, alles kommt zu uns, was zu uns gehört ❣️

  11. Ihr Lieben, wie wundervoll all Eure Feedbacks und Eure einzigartigen Energien und Resonanzen mit meinen Worten zu lesen und zu spüren! Von Herzen Dank dafür 💛

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