Gute Geschichte

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Es war einmal ein winziges Königreich in einer dürren Region im Fernen Osten. Das Territorium war klein, und der Boden war nicht besonders fruchtbar. Es war kein wohlhabendes Land, denn in seinem Boden schlummerten keinerlei Bodenschätze. Der Krieg mit dem Nachbarland hatte das Königreich ausgeblutet, und in der letzten Schlacht war der König gefallen.

Die Bevölkerung verlangte, was alle Völker der Welt immerzu vergeblich von ihren Herrschern fordern. Sie wollten in Frieden leben und arbeiten. Als bekannt wurde, das der König gestorben war und es keinen natürlichen Erben gab, versammelte sich das gesamte Volk auf dem einzigen Platz im Königreich und forderte den Ältestenrat auf, einen Thronfolger zu bestimmen. Nie wieder sollte ein Krieg so viele Opfer fordern, deshalb suchte man jemanden, der das Leben wirklich liebte.

Im Ältestenrat erkannte man, dass die Stimmung in der Bevölkerung nach bedachtsamen Entscheidungen verlangte. Auch sie wollten die Geschicke des Imperiums (wie es in königlichen Angelegenheiten immer großsprecherisch hieß) in die Hände eines klugen und aufrichtigen Menschen legen. Schnell wurde man sich darüber einig, dass der nächste König jung sein sollte, um eine neue Dynastie zu begründen, die über Jahre die Kontinuität seiner Politik wahrte. Die Mitglieder des Ältestenrats – allesamt ehrwürdige Senioren- waren durch diesen einstimmigen Beschluss also vom Amt ausgeschlossen. Tagelang überlegten und debattierten sie: Wie könnte ein solch hochdifferenzierte Wahl getroffen werden?

Wie fand man unter all den jungen Leuten des Königreichs die Person, die sich am besten zum Thronfolger eignete? Für die erste Auswahl bat man jede Stadt, jede Grafschaft und jeden Landkreis um die Entsendung ihres besten Anwärters auf die Krone. Er möge sich vor dem Rat präsentieren. Innerhalb weniger Tage trafen die jungen Leute im Palast ein. Unter ihnen befand sich Liu, eine junge Schäferin, die aus einem sehr entlegenen Bergdorf stammte.

„Ich möchte nicht die künftige Herrscherin sein“ hatte Liu zu ihren Eltern gesagt, bevor sie sich auf den Weg machte. „ Was sollte ich denn als Königin tun?“ „Liebe Tochter, unser Dorf hält Dich für die Person, die am besten für ein friedliches Zusammenleben sorgen kann“, hatte die Mutter geantwortet. „Aber ob du dich der Wahl stellst oder nicht, musst ganz allein du entscheiden.“

Liu, die ein großes Herz für ihre Mitmenschen hatte, gab dem allgemeinen Bitten nach und machte sich auf den langen und beschwerlichen Marsch über Flüsse und durch Wälder vom Berg hinab zum Palast.

Da war sie nun, inmitten von hunderten junger Männer und Frauen aus dem gesamten Königreich, die sich im großen Thronsaal vor dem Ältestenrat versammelt hatten. Der Alterspräsident hieß sie willkommen und sagte: „Wir werden an jeden von Euch ein Samenkorn vergeben. Ihr werdet es im Boden Eures Geburtsdorfes einpflanzen und es hegen. Wenn der Frühling kommt, werden wir uns erneut hier versammeln, jeder mit der von ihm gezogenen Pflanze im Topf. Wer die am schönsten blühende Blume hat, wird den Thron besteigen. Die jungen Männer und Frauen reihten sich vor den Ratsmitgliedern auf, die jedem das einzupflanzende Samenkorn aushändigten.

Liu nahm ihren Samen entgegen und wickelte ihn behutsam in ihr seidenes Taschentuch. 2Er soll nicht zu feucht werden, bevor ich ihn in die Erde setze“, dachte sie. Dann verwahrte sie ihn, damit der nicht zerdrückt und keiner allzu großen Erschütterung ausgesetzt werde, sorgsam in ihrer Ledertasche. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß ihr wertvoller Same auch bestens geschützt war, machte sie sich auf den Weg zurück nach Hause.

Als Liu in ihrem Dorf angelangt war, pflanzte sie den Samen mit der gleichen Sorgfalt und Achtsamkeit in einen Tontopf ein, mit der sie ihn auch vom Palast hergebracht hatte. Sie steckte ihn tief in die allerbeste Erde, die sie in den Bergen finden konnte, und goß ihn täglich, weder zuviel noch zuwenig, und zwar ausschließlich mit Regenwasser, wie der weiseste unter ihren Nachbarn es ihr geraten hatte. (Weder zuviel noch zuwenig, dachte Liu… Wie bei den meisten Dingen.)

Die Tage vergingen, doch trotz des bangen Wartens der Dorfbewohner tat sich in dem Topf nichts. Liu goß die Erde weiter, ohne es zu übertreiben, und wartete geduldig. Monate zogen ins Land, und nichts geschah. Sie fügte neue Erde hinzu und sogar ein bißchen Dünger (nach einem alten Rezept ihrer Großeltern, die ihn einsetzten, wenn der Weizen nicht gedieh). Auch stellte sie den Topf an einen anderen Ort, sang ihm war und sprach zu ihm, ermunterte die Blume zu wachsen. In den Gärten blühte und gedieh inzwischen alles. Im Wald hingen die Sträucher übervoll mit Beeren, nur im Tontopf rührte sich nichts. Liu wußte nicht mehr, was sie noch tun sollte, das Samenkorn ging nicht auf, und mit dem Tag, den sie an dem trostlosen Topf vorbeigingen, versiegten die Hoffnungen ihrer Nachbarn ein bisschen mehr.

Endlich kam der Frühling, und Liu realisierte, daß sie sich allmählich auf den langen Weg in den Königspalast machen mußte, obwohl leicht zu sehen war, daß es sich für sie kaum lohnte, die Reise anzutreten. In ihrem Blumentopf waren nur ein paar Halme gewachsen, die einige schon hoffen ließen, in Wahrheit aber nichts anderes als Unkraut waren. Von einer Blume war weit und breit keine Spur. Ist vielleicht ganz gut so, sagte sich Liu erleichtert. Sie hatte ja nie verschwiegen (und war sich darin auch völlig sicher), daß sie überhaupt nicht den Wunsch hegte, ihr einfaches Leben gegen das einer Königin einzutauschen. Andererseits litt sie mit den anderen Dorfbewohnern mit. Liu befürchtete, sie könnten hinter ihrem Rücken darüber tuscheln, in welch schlechtes Licht sie ihr Dorf bringen würde, wenn sie mit dem leeren Blumentopf vor den Rat trat.

Liu entschied, vor ihrem Abschied das Wort an sie zu richten: „Liebe Dorfbewohner, ihr wißt, daß ich nur aus Liebe und Respekt Euch gegenüber die Aufgabe angenommen habe, als Eure Stellvertreterin all das Schöne und Gute bekanntzumachend, das das Land in uns Menschen und in unserer schönen Landschaft birgt. Obwohl ich mein Leben mit euch nicht gegen das einer Königin eintauschen möchte, bin ich zum Palast gegangen. Diesmal aber bin ich mir nicht sicher… schaut euch meinen Topf an… hat es überhaupt Sinn, dass ich mich auf den Weg mache? Ich habe nicht nicht einmal eine Blume, um mich mit den anderen zu messen. Werde ich Euch nicht in Verruf bringen, wenn ich mit leeren Händen gehe?“

Das Dorf zerfiel sofort in Gruppen, in denen man über eine Antwort an Liu beriet. Nach einer Weile überbrachte ihr ihre Großmutter das Resultat der Überlegungen: „Schäm Dich nicht, so zu gehen, liebe Liu. Unser Dorf hat nie vorgehabt, besser zu sein als die anderen. Wir sind nur eins unter vielen Dörfern, das wie seine Nachbarn den Wusch nach Frieden hat und in seinen Bemühungen darum nicht zurückstehen will.“ Sagte die Großmutter. „Nur wenn Du nicht zu dem Treffen gingest, würde uns das in ein schlechtes Licht rücken. Du hast Dein Bestes getan, und wir haben Dich unterstützt, so gut wir konnten. Nicht hinzugehen wäre, als ob man denen den Erfolg mißgönnte, denen es gelungen ist, eine schöne Blume zu ziehen. Aber die Entscheidung liegt natürlich allein bei dir. „

Liu dachte die ganze Nacht lang darüber nach., und im Morgengrauen machte sie sich auf den weg zum Palast.

Was für ein wunderschöner Anblick bot sich ihr, als sie den großen Thronsaal betrat! Die jungen Männer und Frauen hatten sich wieder vor dem Ältestenrat eingefunden, doch diesmal. Mit ihren Töpfen voller prächtig blühender Blumen, eine schöner als die andere. Der Rat durchwanderte den Saal und besah sich Topf um Topf, bevor er seine Entscheidung traf. Die Farbenpracht und Blütengröße der hübschesten Blumen entlockten einigen Ratsmitgliedern regelrechte Lobeshymnen. So vergingen im vom Blumenduft6 erfüllten Thronsaal die Stunden. Und die Aufregung der jungen Herzen in Aussicht auf den Thron war fast körperlich zu spüren.

Unter all den Menschen ging Liu beinahe unter, ihr Blick war auf den Tontop gesenkt, den einzigen ohne Blume…

Die Ratsmitglieder hatten ihre runden beendet und versammelte sich, um sich zu beraten. Liu hatte nicht einmal bemerkt, daß einer von Ihnen sich ihr leise genähert und auf die Erde in ihrem Topf geschaut hatte, bevor er sich stillschweigen wieder zu den anderen gesellte. Und sie stand immer noch mit gesenktem Blick, als der Sprecher, gefolgt vom gesamten Rat, , auf sie zukam und sagte: „Gesegnet sei dieses Mädchen, es wir unsere neue Königin sein.“ Liu hob die Augen, um zu schauen, wen sie erwählt hatten, und sah den Alten vor sich stehen… und sie sah, wie alle anderen niederknieten, um ihr die Reverenz zu erweisen… sie sah, wie der gesamte Ältestenrat sie voller Zuneigung und mit strahlenden Augen ansah.

„Aber mein Same hat ja noch nicht einmal geblüht…“ sagte Liu leise. „Und der Rat hat doch gesagt, der Thron gebühre demjenigen mit der hübschesten Blume. „Es ist so, wie Du sagst“, antworteten einige der Ältesten zustimmend. Schließlich verkündete der Sprecher für alle: „Die Samen, die wir verteilt haben, waren alle geröstet, Keiner hätte aufgehen und blühen können. Wir wollten sicher gehen, daß ein Mensch den Thron besteigt, für den Ehrlichkeit das höchste Gut ist. Das ist die Blume, die uns diese junge Frau in ihrem Topf dargebracht hat.“

Er drehte sich um und sagte: „Schönheit gibt es hier reichlich, Deine Haltung aber ist für dieses Königreich von viel größerer Bedeutung… Gott segne unsere Königin.“

Jorge Bucay

Danke fürs Finden Nadine

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3 Kommentare zu “Gute Geschichte
  1. Sabine Marino sagt:

    Liebe Bettina,

    vielen Dank für diese wunderschöne Geschichte. Sabine

  2. Ute Dänner sagt:

    Liebe Bettina, vielen, vielen Dank für diese wundervolle und anrührende Geschichte. Gerade in der „jetzigen Zeit“ geht sie noch mehr ins Herz.
    Lichtvolle Grüße
    Ute

  3. Wim Lauwers sagt:

    Eine sehr weise Geschichte. Danke Bettina. Ich hab sie gespeichert und ausgedruckt für Ursula, die Mutter von Christina, die im Hospiz liegt. Sie wird sich freuen.
    <3 <3 <3

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