Der verschwundene Tag

Von Dorothee Kanitz. Sie schaut – gefühlt ausgeschlafen – aufs Handy: 6:10, genauso wie meist. Ihre innere Uhr stimmt in der Regel. Irgendetwas ist allerdings anders, irritierend. Sie kommt erst nicht darauf, was eigentlich. Doch das Gefühl bleibt, verstärkt sich sogar. Und dann sieht sie es: das Handy sagt – inzwischen – 6:13, Dienstag, 5. März 2024.

STOP denkt sie, in Großbuchstaben.

5. März? War nicht gestern der 3. März? Dann sollte heute doch der 4. März sein!

Jetzt ist sie hellwach. Und verstört. Sie schaut auf den Kalender, digital natürlich. Dienstag, 2. März – da ist das grüne Feld, das anzeigt „das ist heute“.

Sie schaut auf ihr Uhr, auch eine mit Datum: Dienstag, 5. März 2024.

Sie erschrickt: hat sie einen ganzen Tag und zwei Nächte lang geschlafen? Es fühlt sich nicht so an, doch was heißt das schon? Oder wird sie etwa dement und vergisst ganze Tage?
Sie erinnert sich noch ziemlich genau an den Sonntag, den 3. März. Morgens hatte sie Besuch, mittags gabs Salat, nachmittags war sie unterwegs, abends war Schreiben mit Andrea*. Über geschenkte, gefundene und verlorene Tage haben sie geschrieben.

Hat sie einen ganzen Tag weg-geschrieben? In „echt“ verloren? Kann frau „ganze Tage“ vergessen, einfach so?
Sie kann sich beim besten Willen nicht an Montag, den 4. März, erinnern.

Eine gewisse Panik macht sich in ihr breit.
Sie zieht sich etwas über und geht zum Briefkasten, die Zeitung wird’s richten… Da sollte ja irgendetwas von gestern stehen.
Zuerst das Datum: Dienstag, 5. März.
Sie überfliegt die Schlagzeilen: Sie findet keine Daten in den Überschriften, auch nicht in den Artikeln, die sie überfliegt – jedenfalls nicht den 4. März.
Was war bloß gestern? Der 4. März oder der 3. März? Ist sie die einzige, die einen ganzen Tag verloren hat, oder ist das ein kollektiver Verlust, den offenbar keiner merkt?

Sie schaut auf den Zeitungsstoß, der sich auf dem Stuhl stapelt. Oben liegt die Zeitung von Samstag, dem 2. März. Sonntags kommt ja keine – doch wo ist die von Montag, dem 4. März?
Im Briefkasten war nur diese eine Zeitung, die sie jetzt vor sich hat: Dienstag, 5. März.

Wo ist der 4. März? Eine Zeitung kann verschwinden, aber ein Tag?

Ihre Irritation nimmt zu, der fehlende Tag macht ihr zu schaffen.

Doch wen kann sie morgens um halb sieben anrufen?

Die Nachrichten, fällt ihr ein. Sie schaltet ein: die üblichen Katastrophen werden gemeldet, doch von einem fehlenden Tag ist nicht die Rede. Da, die Nachrichtensprecherin sagt „Gestern, am 3. März traf die Bundesaußenministerin …“ mehr hört sie nicht.

„Gestern, am 3. März“. Das ist doch unglaublich. Wo ist der 4. März?

Sie beschließt, dieses Rätsel erst einmal stehen zu lassen. Vielleicht klärt es sich ja. Und wenn nicht – gestern ist vorbei.
Doch mit diesem Tag, diesem 5. März, wird sie sehr sorgsam umgehen. Ihn wert-schätzen. Er soll ihr nicht abhandenkommen, sie will ihn leben.

*Schreiben mit Andrea kann man wirklich, wenn auch nicht am Sonntag 😊

Dorothee Kanitz
www.meditation-spirit-ritual.de

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11 Kommentare zu “Der verschwundene Tag
  1. Danke Dorothee für diese Geschichte – gerade empfinde ich auch die Zeit immer wieder anderes – mal so schnell, dann verfliegend – aber am Ende immer geschenkt!

  2. Miriam sagt:

    Huuuh – was für ein Gruseln beim Lesen da in mir aufsteigt. Wie sich mein eigenes Erleben aktiviert wenn eine grundlegende Orientierung der äußeren Art infrage steht. Heftige Enge und so. Die Erzählerin, wie macht sie das nur, NICHT in solche Enge zu geraten. Oder doch jedenfalls so leichtfüßig sich vom Unerklärlichen abzuwenden? Woraus nur schöpft sie solchen Gleichmut? – Was für eine interessante Begegnung mit mir selbst an diesem Morgen …

  3. Jumana sagt:

    Hihi – Danke schön,liebe Dorothee, mir hat die Geschichte ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert. ;-))

  4. hallo ihr Lieben, ich bin begeistert – mal wieder über die co-Kreation, die hier auf den newslichtern möglich ist. Bettina schenkt mir mit ihrem Beitrag über den geschenkten Tag am 29.2. ein inspirierendes Thema für „Schreiben – einfach so“ – Dorothee greift es auf und macht etwas Tolles daraus, um es wiederum hier auf den newslichtern euch zum lesen zu geben und ihr wertschätzt es durch euer Lesen und eure Kommentare. So darf es sein. Ich freu mich! Andrea

  5. Wie cool ist das denn, liebe Dorothée!!!! Ich war vom ersten bis zum letzten Wort gebannt und mitten in Deinem Bett und Deiner Geschichte. Großartig Ihr beiden, Dorothée und Andrea :-)))). Vielen Dank für diese zauberische Geschichte!! Schlummert da vielleicht noch etwas Größeres in Dir, Dorothée??

  6. Dorothee sagt:

    Danke, ihr Wundervollen, für eure Kommentare – es freut mich immer sehr, wenn ich merke, dass meine Texte euch berühren und ihr euch beschenkt fühlt dadurch. Und die vielfältigen Verbindungen zu- und miteinander machen mich glücklich! Namaste🙏

    • Marion sagt:

      Danke für diese interessante Anregung… Nur werde ich mich den ganzen Tag und wahrscheinlich noch länger fragen, wie klärte sich diese Begebenheit auf?

  7. Steffi sagt:

    Liebe Dorothee. Was für eine spannende Geschichte. 😵 Hat mich sehr gefesselt. Ich hätte glaub ich sogar ein ganzes Buch dazu gelesen. 🤩 Danke für deine Gedanken.
    PS: Für mich ist der 04.03. für immer im Kopf. Ich habe an diesem Tag gekündigt und nach 15 Jahren eine unbefristete Stelle im öffentlichen Dienst aufgegeben. Ohne schon was Neues in Sicht zu haben. Es ging für mich nicht mehr anders. Damit ich keine verschwundenen Tage mehr habe. 💃

    • Dorothee sagt:

      Liebe Steffi, danke!
      Wie schön, dass du am 4.3. einen so mutigen Schritt getan hast – dem Leben auf der Spur… Mögen deine erfüllt sein und bleiben🙏

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