Alles hat seine Zeit

Lesezeit 6 Minuten –

Woher wissen wir, wann die richtige Zeit ist, etwas zu kreieren, zu entscheiden oder zu erleben? Kann es sein, dass es zwei Modi gibt, aus denen heraus wir unser Leben gestalten können – den Modus der Gewohnheit und den zyklischen Modus der Hingabe? Alles hat seine Zeit.

„Sie müssen sich schon entscheiden.“ Die Verkäuferin lächelt mich an. Ich lache zurück – wirklich? Muss ich das? Und wenn ja, woher weiß ich, wofür ich mich entscheide? Intellekt, sagen die einen – Intuition, die anderen. Und dann ist da noch dieser Bibelvers, der mir in letzter Zeit ständig begegnet.

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. Und weiter heißt es: Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt? (Kohelet, 3)

Ich lese daraus, dass wir auf einer tiefen Ebene des Seins etwas wissen (dürfen) – alles Tun und Nicht-Tun, alles Erleben und Entscheiden in der lebendigen Wirklichkeit ist eingebunden in Kreisläufe – es verläuft zyklisch. Wie entscheidet der Baum, wann er Blätter bekommen soll? Wie beschließt der Kranich zu ziehen? Warum entscheidet sich der Löwenzahn zu blühen und wie kommt es, dass die Wolke irgendwann den Regen auf unsere Felder fallen lässt, damit die Ernte reichlich wird? Sie entscheiden nicht, sie wissen nicht. Niemand gibt diesen Rhythmus vor. Nein, der Satz ist falsch: Alles, die Gesamtheit, gibt diesen Rhythmus vor. Alles ist Teil eines einzigen großen kreativen Ausbruchs von Entstehen und Vergehen von Festhalten und Loslassen.

Und du? Woher weißt du eigentlich, wann du morgens aufstehst, was und wann du frühstückst, wie du zu deiner Arbeitsstelle kommst und woher weißt du, was du sagst, wenn du die Kollegin begrüßt? Eine Mischung aus Gewohnheit, Ritual und gesellschaftlichem Konsens? „Das macht man halt so, das mache ich immer so.“ Mir geht es da nicht anders. Und doch – was würde passieren, wenn wir uns erlauben würden, den Dingen ihre Zeit zuzugestehen? Wenn wir den Raum öffnen und halten würden, um zu erfahren, was genau in diesem Moment entstehen will? Was genau jetzt seine Zeit hat?

Aus diesem „subversiven“ Gedanken heraus entsteht für mich die Einsicht, dass es zwei Modi gibt, aus denen heraus wir unser Leben gestalten könnten – den Modus der Gewohnheit und Sicherheit und den zyklischen Modus der Hingabe: Alles hat seine Zeit.

Gerade mein Schreiben ist für mich eine tägliche Erfahrung dieser Demut und Hingabe an das, was sich zeigen will. Meistens gehe ich mit einem Plan an den Schreibtisch – im Outlook-Kalender stehen Termine und Texte, die geschrieben werden dürfen. Und doch habe ich mittlerweile tief verinnerlicht, das alles seine Zeit hat – eine Zeit für die Steuererklärung, und eine für einen Newsletter. Eine Zeit für Brotbacken und eine, um weiter an meinem neuen Buch zu schreiben; eine Zeit, um die Wäsche aufzuhängen und eine, um die Lebensgeschichte meiner Mandantin weiter zu erforschen und zu Papier zu bringen. Wenn ich diese Zeiten vermische, entsteht Salat, Chaos, Verwirrung – gebackene Worte, geschriebenes Brot.

Gerade wenn ich am Vortag für einen Workshop Raum gehalten habe oder einen Tag voll von Gesprächen, Erleben und starken Sinneseindrücken hatte, weiß ich mittlerweile genau: Alles hat seine Zeit und heute ist die Zeit, deine Sinne zu erholen. Das geschieht für mich dann meistens im körperlichen Tun. Dieses Wissen, dass auch Kreativität zyklisch funktioniert, hat für mich etwas unglaublich Erleichterndes. Unzählige Male hatte ich mich am Schreibtisch festgezurrt und Stunde um Stunde Worte in die Tastatur gehämmert, weil ich leisten wollte. Schließlich verdiene ich mein Geld mit Schreiben und dann ist da dieser Ansatz der Disziplin – frau sitzt eben von 8 bis 17 Uhr am Rechner und leistet und davor und danach ist die Zeit für Hausarbeit oder „Feierabend“. Aber – um es mit Kohelet zu fragen – welchen Vorteil hatte ich davon, dass ich mich angestrengt habe? Den der Pflichterfüllung?

Alles hat seine Zeit – für mich heißt das auch Folgendes: Wenn wir unsere Konzepte loslassen, dann geschieht etwas Unglaubliches. Wir öffnen uns für die Möglichkeit, dass eine andere Kraft übernimmt und ganz federleicht durch uns das entstehen lässt, für das es gerade Zeit ist. Und wenn das „große Bild“ sich uns gerade (noch) nicht erschließt – nun, dann gehen wir den einen Schritt weiter, den wir gehen können. Im Weitergehen (und Innehalten) eröffnet sich eine neue Perspektive, von der aus wieder ein nächster Schritt möglich wird … Schritt für Schritt folgen wir dem Pfad des Lebens.

Übrigens wurde mir diese Herangehensweise nicht durch „Erleuchtung“ zuteil . Sie wurde mir beigebracht, und zwar nicht nur durch lebendige Erfahrung, sondern auch ganz konkret durch eine Ärztin. Ich hatte eine medizinische (und finanzielle) Entscheidung zu treffen und fühlte mich unglaublich unter Druck – ich glaubte, schnell entscheiden zu müssen und es gab zwei Optionen. Morgens hielt ich die eine für sinnvoll, abends die andere – am nächsten Tag war es umgekehrt. Ich grübelte, malte und schrieb, nutzte das Körperpendel – ich tat alles, was ich gelernt hatte, um Intellekt und Intuition zu einer Entscheidung zu bringen, zu zwingen. Meine Zahnärztin hielt von all dem nichts. Jedes Mal, wenn wir miteinander sprachen und ich mal wieder glaubte, jetzt endlich die richtige Entscheidung getroffen zu haben, schickte sie mich weg – „Wenn es soweit ist, werden Sie nicht glauben, sondern wissen, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.“ Woche um Woche tat sie das – mit einer Engelsgeduld! Und dann kam es so, wie sie gewusst hatte: Es war ein fehlendes Gespräch, eine unvollständige Information … Irgendetwas musste noch ankommen, durchrutschen, eine Resonanz in meinem Inneren hatte noch gefehlt – und dann wusste ich. Ganz sicher. Felsensteinbrockensicher: Ich will es so. Und nicht anders.

Seitdem bin ich viel entspannter, wenn es um die großen und kleinen Dinge des Lebens geht: Alles hat seine Zeit. Sitze ich heute hier und weiß nicht weiter, ist morgen vielleicht die entscheidende Idee da oder eine andere Tür hat sich geöffnet. Bin ich heute nicht kreativ, nun, morgen werde ich es sein. Und passenderweise steckt gerade mein Mann den Kopf zur Bürotür rein – „Es ist so herrliches Wetter. Wollen wir ein Eis essen, hast du Zeit?“

Klar, habe ich. Den Text überarbeite ich morgen. Alles hat seine Zeit.

Andrea Goffart begleitet andere Menschen dabei, ihre Geschichten zu erzählen. www.andrea-goffart.de

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Andrea Goffart
Andrea Goffart

Als Autorin, Biografin und Schreibcoach unterstützt Andrea Goffart Menschen dabei, ihre Geschichte(n) zu erzählen. In ihren Schreibräumen (online / Präsenz) entsteht ein offenes, wertfreies Wir, das auch schüchterne Geschichten einlädt, sich zu zeigen. www.andrea-goffart.de Monatliche Schreibimpulse schenkt ihr Newsletter FEDERFLUSS.

11 Kommentare

  1. Oh ja, wie gut kenne ich diesen immer wieder aus dem Verstand und aus der Gewohnheit auftauchenden Zwang, das muss jetzt/heute fertig werden.
    Nein, muss es nicht. Es geht so viel schneller und so viel leichter und besser, wenn ich zunächste mal eine Bitte rausschicke, es möge die richtige Inspiration kommen für das was geschehen möchte – und dann einfach tue, was gerade besser geht.
    Wieoft habe ich schon die Erfahrung gemacht, wie wunderbar es läuft, wenn ich es genau so mache. – Und doch geht es immer wieder so los wie oben geschildert ;-))

  2. Ihr Lieben, von Herzen Dank für eure Rückmeldung und Bestätigung. Und Dörte, genauso ist es, so erlebe ich es auch. Auch hier hängen wir wieder irgendwo zwischen Gewohnheit und Vertrauen fest. Ich glaube, je öfter wir den neuen Pfad gehen, desto breiter wird er. Oder?

  3. Was für ein wunderschöner und wunderbarer Text – er hat mich nicht nur berührt, sondern auch im genau richtigen Moment an diesen Punkt erinnert. Dem Abwarten, dem Geschehen lassen, dem Fließen lassen. Vielen Dank! 🙂

  4. ja auch mich hat der text berührt. ich übe dies schon eine ganze weile, und ja: der pfad wird breiter. meine geburtsheimat -nordsee- hat mich eingeladen in ihr, mit ihr noch tiefer zu lernen über das Zyklische, die wellen des lebens. am strand sitzend und lauschen. mit den zehen das watt fühlen. alles hat seine zeit. danke ja.

  5. Danke Andrea, für deinen wunderbaren Text. Ja, alles hat seine Zeit. Danke für deine Erinnerung 🤗

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