Sechs Minuten nach

Lesezeit 3 Minuten –

Von Franziska Lô. Wie viele Menschen in dem idyllischen griechischen Bergdorf leben, weiß ich nicht. Vielleicht zweihundert. Sicher weiß ich nur, dass meine Seele hier ein Zuhause gefunden hat.

Anfangs bin ich nicht sicher, woran es liegt, dass Frieden, Stille, Gleichmut und Gelassenheit jeden Tag mehr Besitz von mir ergreifen. Ich erforsche, lausche und warte.

Da höre ich sie: die Turmuhr. Sie schlägt zur vollen und zur halben Stunde. Als ich es zum ersten Mal bemerke, schaue ich auf mein Handy und es ist 10:06 Uhr. Oh, tatsächlich?

Auch zur halben Stunde schlägt sie zuverlässig: sechs Minuten nach halb.

Es mag eine Kleinigkeit sein, die den meisten überhaupt nicht auffällt. Mich berührt diese Kleinigkeit tief. Ich spüre: hier habe ich Zeit. Sie ist im Überfluss vorhanden. Es gibt nichts zu tun, kein Eilen, keine Hektik, kein Druck.

Seit jeher bin ich der Meinung, dass sich die Energie eines Ortes auf uns überträgt. Auch wenn mein Vermieter Vasili sagt: „Wenn du in dir gut bist, ist es überall auf der Welt schön.“ Weise Worte. Hohe Ziele. Denn wir alle kennen sie, die stille Ruhe, die uns umgibt, wenn wir durch Mutter Natur streifen und sie tief einatmen. Gefolgt von dem inneren Vibrieren, wenn wir wieder in einer Stadt sind oder an Orten, die von uns nehmen, statt zu geben.

Ich spüre nochmal hin: ja, diese göttliche Langsamkeit. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Dinge passieren, wenn es soweit ist. Nicht früher, nicht später. Sondern genau dann.

„Warten weitet das Herz“, weiß auch Pater Anselm Grün. Und das ist das nächste Erlebnis, das so banal wie wunderbar ist.

Wir kaufen in einem Tante-Emma-Laden noch ein paar Kleinigkeiten, wobei ich die schmale Straße mit dem Auto blockiere. Dann fällt mir plötzlich auf, dass hinter mir ein anderes Auto steht. Wie lange ist es dort schon? Der Fahrer hat den Motor ausgeschaltet und: wartet. Er hupt nicht, er schimpft nicht, er klopft auch nicht an die Scheibe. Er wartet. Tatsächlich. Ohne zu murren, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Und genau in dem Moment wird mir bewusst, dass es das Selbstverständlichste ist! Dass es in Ordnung ist, dem anderen den Raum zu geben, den er braucht. Sich selbst die Zeit zuzugestehen, die man braucht um zu sein, zu werden, zu tun oder zu lassen. Eben das, was gerade dran ist. Dass wir jedes Mal, wenn wir auf jemand anderen warten, genau diese Stille für uns selbst genießen können, statt sie mit irgendetwas füllen zu müssen.

Wieder zurück im Dorf läutet die Glocke: zuverlässig sechs nach. Welche volle Stunde es ist, ist gar nicht wichtig. Die Zärtlichkeit, die in dieser Geste liegt, berührt mich sehr.

Was macht es mit uns, wenn wir uns einfach wieder die Zeit nehmen dürfen, zu warten und die Zeit in Anspruch zu nehmen, die wir brauchen?

Für uns. Für mich. Jeder für sich. Für einander. Für das Tun. Für das Lassen. Für das, was kommen will.

Lücken nicht ständig praktisch füllen und optimieren müssen, sondern einfach wieder spüren, dass wir da sind. Atmen. Riechen. Hören. Fühlen. Dem Wind lauschen. Nach Innen spüren. Das Herz fühlen. Die Seele sprechen lassen. Den Dank fühlen.

Sein statt tun. Spüren statt wollen. Lassen statt machen. Absichtslos.

Franziska Lô ist Psychologin, Kunsttherapeutin und Autorin. Sie reist gern und sammelt unterwegs Weisheiten und Geschichten, um sie in Ihr Leben und Ihre Arbeit zu integrieren. Sie bietet online psychologische Beratungen an, die auf den buddhistischen Prinzipien der Achtsamkeit beruhen. https://praxis-flo.de und www.franziska-lo.com, +49 711 121 69 24

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Gastbeitrag
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13 Kommentare

    • Danke liebe Bettina für die Möglichkeit, meine Worte bei euch zu veröffentlichen. Und danke für deinen schönen Kommentar. Ja, wie im Kleinen, so im Großen… herzlich, Franziska

    • Liebe Bettina,

      Vielen Dank für die Möglichkeit, meine Worte bei euch zu veröffentlichen und ja, wie im Kleinen so im Großen. Was für eine köstliche Welt hätten wir dann..
      Herzlich, Franziska

  1. Liebe Franziska,
    Dein Text hat mich sehr berührt…ähnliches habe ich gerade auf der Insel Juist erlebt…
    Danke dafür <3
    Ute Christiane

  2. Liebe Franziska,
    genau diese Erfahrung, habe ich auch gemacht! Dass v.a. in der dörflichen Provinz bzw. die Italiener:innen generell mehr eine achtsamere Geduld im Alltag leben, was ihnen viel nervenaufreibenden Stress erspart und ihnen und ihren Mitmenschen zu einem entspannteren Leben verhilft! – Kommt nach Italien, dann könnt ihr das selbst erleben! 🥰

    • Lieber Ulrich,
      Wie schön! Es freut mich, dass auch du einen Seelenort gefunden hast. Genieße ihn und das „dolce far niente“, das süße Nichtstun.
      Herzlich, Franziska

  3. Mhmmm, ich danke dir für diese wunderbare Reise auf die du uns mitnimmst, liebe Franziska. Komme gerade erst langsam zurück aus dem Urlaub auf einer griechischen Insel und kann es so gut nachfühlen. Nehme die Freundlichkeit tief in mein Herz, die mir dort begegnet. Nehme den Frieden mit den ich dort spürte. Nehme das einfach(e) sein mit. Nähre mich daran. Tauche ein in meine inneren Bilder und atme das tiefe türkisblau des Meeres in mein Herz.

    Das Zitat von Anselm Grün berührt und tröstet mich. „Warten weitet das Herz“ so scheint es seit Monaten für mich zu geschehen. So bin ich dankbar und voller Milde für mich und meinen Weg.

    Von Herzen, Alexandra

  4. Liebe Franzi, deine Mama hat mir gerade den Link zu deinem wundervollen Text geschickt. Was für schöne Worte, die sofort Bilder im Kopf erzeugen. Gerne wäre ich auch an diesem von Dir so liebevoll beschriebenen Ort. Am meisten hat mich die Szenen berührt mit dem Autofahrer, der einfach gewartet hat – ruhig, still, nicht gehetzt – einfach gewartet. Wie schön, dachte ich – er hat Zeit und gibt sie euch! Wir hatten gestern genau das Gegenteil erlebt: Als wir nicht unmittelbar und sofort in einer gemischt genutzten Straße (beruhig, aber trotzdem dürfen Autos und Räder dort fahren) auf das Klingeln einer Radfahrerin reagiert haben und zur Seite gesprungen sind, wurden wir von derselben Person rüde beschimpft und kritisiert. Erschrocken sind wir ausgewichen und die Dame fuhr schimpfend an uns vorbei.
    Danke liebe Franzi, es gibt Gott sei Dank auch noch andere Orte ❤️.
    Liebe Grüße Jeanette

    • Liebe Jeanette,
      ja, das sind sie, die Prüfungen des Alltags. Der Buddha lehrt uns Mitgefühl…
      Wer weiß, was ihr passiert war. Denn es ist doch einfach: geht es dir gut, bist du nett zu anderen. Also kann man davon ausgehen, dass jeder der keift im Grunde gerade Dampf ablässt, weil ihn/sie etwas plagt. Ein „Gute Besserung“ nachrufen, hilft da vielleicht.
      Und als Radfahrerin sage ich dazu, dass es immer mit Spannung verbunden ist, wenn jemand im Weg rumtrödelt, denn der Radler stürzt eher als der Spaziergänger oder Autofahrer etc
      Alles hat zwei Seiten 🙂
      Herzlichen Dank dir für deinen schönen Kommentar.
      Herzlich, Franziska

  5. Oh wie schön, im Lesen mit in diese Stille einzutauchen. In diesen so viel ruhigeren Gang zu schalten, der uns Menschen im Hier und Jetzt anwesend sein lässt. Danke! – Sitze hier und lächle. Freu mich am ruhigen inneren anwesend Sein, wenn ich im Sommer in Malchow die Zeit der offenen Drehbrücke erwische. Früher war ich … ungeduldig. Es sollte doch jetzt dann gleich mal wieder weitergehen. Fand ich. Und verpasste Lebenszeit. – HEUTE fahre ich ans Ende der Warteschlange. Stelle den Motor aus. Und geh dann gemütlich ein paar Schritte spazieren im alten Inselstädtchen. Blick hier aufs Wasser, dort auf liebevoll gepflanzte Blumen. Bienen, die ihrem Tagwerk nachgehen. Der Himmel über mir. Die Ruhe in mir. Alles ist da. Und will dankbar genossen werden. Keine Wartezeit mehr. – Lebenszeit.

    • Liebe Miriam,
      wie wundervoll! Ich danke dir für diese, deine schönen Worte.
      Ich rieche die Brise.. Köstlich.
      Danke!
      Herzlich, Franziska

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