Von Bratheringen und Eichhörnchen
Wir sind von Geschichten umgeben, sie warten an jeder Ecke, in jeder Begegnung auf uns. Jede Minute, ja, fast jede Sekunde liegt eine Geschichte vor uns, manchmal einfach so – auf dem Bürgersteig. Vielleicht sollten wir uns ab und zu mal bücken, denn es könnte sein, dass die Basis für unseren nächsten Artikel, für unser nächstes Kunstwerk direkt vor unsere Füße fliegt.
Wir heben etwas auf, eher zufällig. Wissen vielleicht noch gar nicht genau, warum. So geschehen ist dies dem Bildhauer Björn Poppinga und ich fand die Geschichte, die er uns im Sommer auf dem Töpfermarkt in Iznang erzählte, so besonders, dass ich sie „aufgehoben“ habe. Irgendwann wird sie erzählt werden wollen, dachte ich – zum Beispiel jetzt. Maritime Kunst nennt Björn seine Objekte. Ich bestaune leuchtende Keramiken von Muscheln, bis ins Detail nachempfunden. Dazwischen liegt eine alte Zeitung, mit Bratheringen darauf und ein paar Miesmuscheln, ein Messer, dem man ansieht, dass es viel genutzt wurde, komplettiert das Stillleben. Fast rieche ich die Heringe und diesen speziellen Geruch, der entsteht, wenn feuchte Lebensmittel in Zeitung geschlagen werden. Der Geruch ist doch da, oder? Ich muss dreimal hingucken und hinriechen, bis ich es glaube: Das ganze Stillleben ist aus Keramik, auch der zerknitterte, abgenutzte Titel des Hamburger Abendblatts, auf dem sich fast jedes Wort lesen lässt.
Björn erzählt, dass ihm genau dieser Zeitungsfetzen „in Echt“ vor vielen Jahren auf dem Hamburger Fischmarkt entgegengeweht wurde. Er hielt ihn fest und fand ihn wichtig. Vielleicht, weil sein spezielles Erleben des Moments in dieses Objekt floss und sich dadurch konservierte. (Und wer von Euch nach einer mehr oder weniger durchfeierten Nacht mal seinen Morgenkaffee und Hering in der Lebendigkeit des Fischmarkt genossen hat, während über der Elbe die Kräne träge in Bewegung kamen und erste Tageslichtfetzen an Kraft gewannen, kann das vielleicht nachfühlen – es ist ein spezielles Erleben.)
Zurück zur Sammelleidenschaft des Künstlers. Das Zeitungsblatt kam erst in seine Tasche und dann an die Wand des Ateliers, so stelle ich es mir vor. Dann hing es dort und erzählte leise seine Geschichten. Von dem, was war. Und von dem, was werden wird. Irgendwann. Zeit, Kunst und Technik entwickeln sich über die Jahre weiter und irgendwann reift im Zuge der neuen Möglichkeiten des Digitaldrucks eine Idee und dann ein Projekt: Aus einem Stück Müll wird ein Stück Kunst, liebevoll bis in die letzte Schuppe zum Leben erweckt. Das damals konservierte Erleben greifbar gemacht für uns als Betrachter. Und zum Schluss schenkt mir Björn noch ein schönes Detail – er hat Postkarten von diesem Stillleben produziert und vom Verkaufserlös dieser Karten wird er seine Frau zum Essen einladen – auf dem Fischmarkt? Das hat er nicht erzählt.
Eichhörnchen-Modus
Ich halte diesen Sammel-Modus, diese Offenheit gegenüber Impulsen für eines der wichtigsten Kennzeichen einer „gute“ Autorin. Mehr noch: Wenn man mich fragen würde, was ein „guter“ Autor anders macht, würde ich sagen: Absolute Offenheit und Empfänglichkeit gegenüber all dem, was uns minütlich an Geschichten begegnet. Sie hört hin, schaut hin und spürt hin – er findet die Juwelen in seinen Begegnungen, in seinem Erleben und in dem, was er im freien Assoziieren und Gedankenspazieren daraus macht. (Natürlich, würde ich diese Antwort erst geben, nachdem ich erklärt hätte, dass „gut“ in diesem Zusammenhang erst mal definiert werden müsste …)
Also – du willst schreiben? Dann leg los: Sammle Ideen, Fragmente für dein Buch, Bilder, Schnipsel, Artikel – hebe unvoreingenommen alles auf, was dir irgendwie wichtig erscheint, auch und gerade, wenn du keine Ahnung hast, warum es dir wichtig erscheint. Nur Geschichtensammler:innen können Geschichten erzählen! Die großen und die kleinen, die offensichtlichen und die versteckten, die druckfrischen und auch die, deren Wert sich erst später erschließen wird, wenn eins und eins zusammenkommt und wir in unserer Gedankenschublade kramen – da war doch mal was …
Ständig begegnet uns etwas, das eine Geschichte werden kann. Jemand sagt etwas oder sagt etwas nicht, wir sehen, lesen oder denken etwas, das uns beMERKENswert erscheint – also: Es hat den Wert, es sich zu MERKEN. Und das sollten wir dann auch tun – in einem Tagebuch, in einem Notizblock, auf einer Pinnwand. Als Autorin wirst du zum Eichhörnchen – du sammelst alles, einfach alles, was dir MERKENSWERT erscheint und hebst es für „später“ auf. Und vor allem – du öffnest dich weit und noch weiter, um in deiner Umgebung empfänglich zu werden – für besondere Formulierungen, kleine Anekdoten, Erzählungen der Nachbarin – für das Besondere, das in jeder Begegnung unseres Alltags zu finden ist. Gespräche in der U-Bahn, skurrile Dialoge aller Art, Verballhornungen von Fremdworten, kaputte Buchstaben in einer Leuchtreklame, die einen neuen Sinnzusammenhang erleuchten. Als Autor spielst du mit den Bällen, die dir das Leben zuwirft, denn oft ist es so, dass wir das Besondere in einer Begebenheit erst auf den zweiten, genaueren Blick erkennen. Also – schau genau hin. Und dann – schau nochmal hin. (Das macht das Leben automatisch langsamer – ein schöner Nebeneffekt, oder?)
Was passiert, wenn wir so arbeiten? Etwas Wunderbares! Wir sorgen dafür, dass das Leben (Gott, Göttin, Universum) an unserer Kunst mitarbeiten kann. Durch unsere Offenheit, unser Einlassen geben wir ihm die Möglichkeit, uns genau die Informationen zukommen zu lassen, die wir gerade benötigen – versteckt in Nachrichten oder Büchern, im freundschaftlichem Austausch oder mitgelauschten Gesprächen … Wir öffnen uns – und dann schreibt das Leben durch uns hindurch das, was geschrieben werden soll. Anders gesagt: Wenn Ihr Eure Wahrnehmung-Muskeln trainiert, dann erzählt das Leben Euch Geschichten und Ihr müsst sie nur noch aufschreiben! So einfach ist das!
Veranstaltungshinweis: Infoabend am 19.11. ab 19 Uhr: Hast du Lust bekommen, deine Sammelleidenschaft schreibend umzusetzen? Du hast ein Buchprojekt vor dir, oder in der Schublade? Im Februar 2025 startet wieder der Jahreskreis für Autor:innen und einen unverbindlichen Infotermin gibt es am 19.11. ab 19 Uhr. Melde dich gerne an.
Mein erster Gedanke: Oh, was für ein Geschenk, wenn Geschichten einen solchen Ausdruck bekommen, wie die Fische auf dem Zeitungspapier. Was für eine Begabung …
Mein zweiter Gedanke: Ja, auch ich erzähle Geschichten, auch wenn ich es nicht so bezeichnet hätte. Meine Bilder, die Natur-Fotos und meine Texte erzählen das, was mir zugeflogen ist. Da war sicher auch oft das Göttliche mit im Spiel, denke ich heute. Das daraus entstandene Kartenset, die Fotos zum Download und die Texte zum Eintauchen lassen Raum für eigene Geschichten …
So lehne ich mich zurück, lächle dankbar und weiß: Ja, jede und jeder von uns bringt eigene Geschichten in die Welt, die berühren, bereichern, inspirieren können. Beschenkt und berührt von dem, was andere schenken, schenke ich mich dazu! 🙂
Von Herzen Dank, liebe Andrea, für diesen Impuls!
Herzensgrüße und allen eine gute Zeit mit guten Geschichten
Imke