Ringelnatz im Wartezimmer

Lesezeit 4 Minuten –

Dieser Tage eine Entdeckung, mein mir so vertrauter Körper zeigt eine Veränderung, die mich beunruhigt. Mein Gehirn, in alter Begabung dazu, dreht frei, produziert Angstszenarien. Ohne Unterlass. Ich beobachte mein enggestelltes Sein. Was zunächst nichts ändert. Immerhin, ich beobachte, bin mir dessen gewahr. Um in Klärung zu gehen, bitte ich um einen Termin bei meiner Hausärztin. Der folgende Tag ist voller gestopft, als ich freiwillig und im Guten jonglieren kann. Üblicherweise. So glaube ich mich zu kennen. Will diese alte Überzeugung noch für wahr halten. Um überrascht zu werden vom wirklich wahren Leben.

Nach intensiven Aufgaben frühmorgens bin ich um neun Uhr in die Praxis meiner Hausärztin bestellt. Die neuen Räume kenne ich schon, ein kleines Wartezimmer. Eine ältere Frau. Wir grüßen uns freundlich. Jemand holt die Winterjacke vom Garderobenhaken. Eine andere besucht die Toilette nebenan. Ich setze mich und schließe die Augen, um in mir gegenwärtig zu sein, mich zu spüren. Meine wartende Patientinkollegin wird aufgerufen, verlässt den Raum. Eine Familie kommt an, betagte Eltern mit ihrer erwachsenen Tochter. Die andersfähig ist, das spüre ich. Um gut bei mir sein zu können, schließe ich auch jetzt meine Augen wieder und bin ganz bei mir. Dann, nach einer Weile, höre ich den alten Vater seine Tochter ansprechen. Dann sie ihn. Und etwas später hör ich ihn zwei Zeilen zitieren. Die Tochter wiederholt sie. Und ich …

… tauche auf. Jetzt ganz erfüllt in mir und grenzenlos offen frage ich die beiden, kennt ihr das Gedicht, zu dem diese Worte gehören? Wisst ihr, wer der Autor ist? Denn die Zeilen klingen so vertraut in mir nach. Die beiden wissen es nicht. Ich bin so alt, ich muss das nicht mehr wissen, sagt der hochbetagte Vater. Und wiederholt es ein paar Mal. Vielleicht, denke ich, ist er dement. Und freu mich dran, wie klar er diese kostbare Entlastung für sich herstellt. Eine junge rothaarige Pharma-Vertreterin – meine Vermutung bestätigt sich später – ist zu unserer kleinen Runde dazu gekommen. Sie ist jünger als ich. Darum jung. Lächelnd sieht sie auf. In der Hand Unterlagen, neben sich eine Aktentasche. Ich spreche vom vertrauten Klang. Spreche wie im Selbstgespräch mit mir und erzähl den vier Menschen davon. Frage mich, welcher Autor das sein könnte. Was mich da im Hören so vertraut berührt hat, tief innen. Dann ist da eine Idee. Taucht auf. Ich freue mich, sage, Ringelnatz. Es ist von Ringelnatz. 

Dann, ich versuch es mal. Vielleicht kann ich es auswendig. Und da ist er. Der Sauerampfer auf dem Damm. Ich strahle in der Freude über die Geschichte, die der Dichter fröhlich ins Gedicht geworfen hat. Alle Gesichter um mich – offen, zugewandt – beginnen zu lächeln und sich dem Augenblick meines wildvergnügten Vortrags hinzugeben. Den wir alle fünf geschehen lassen. Genießen. 

Doch es stellt sich heraus, die Frage bleibt mit endenden, erinnerten Versen vorerst unbeantwortet. Wohin denn nur gehören die beiden vorhin gehörten Zeilen. Doch es gibt Rat, moderne Zeiten eröffnen neue Wege. Die mir so deutlich jüngere Rothaarige ist inzwischen via drahtloser Verbindung ins Meer der weltweiten Weberei eingetaucht. Ich habs gefunden, hör ich sie aufblickend sagen. Und so stellt sich dank ihr heraus, es ist Ringelnatz. Ja. Nur wars nicht der Sauerampfer, das arme Kraut, der schwache Halm. Sah Eisenbahn um Eisenbahn. Doch niemals einen Dampfer. 

Es war der Briefmark. Dessen Geschichte in mir klang, als jene beiden Zeilen zwischen Vater und Tochter hin- und hergingen. Während die Entdeckerin mir also den Titel zuruft, freu ich mich entzückt und frage die Runde, vor allem dabei sie, ob ich es versuchen soll. Sie lächelt mir ihr Ja zu. Alle fünf Menschen sitzen wir da in diesem Wartezimmer, verbunden. Ganz im Augenblick dieses Hier und Jetzt. Unseres Zusammenseins. Und ich erzähle Joachim Ringelnatz so wunderfröhlich gedichtetes Drama des männlichen Briefmarks. Der was Schönes erlebte, bevor er klebte. Und so haben wir zu guter Letzt auch die beiden klingenden, dramatischen Schlusszeilen gefunden, die uns alle zusammengeführt hatten in dieses lachend erfüllte Beisammensein.

Und meine Klärung? Was soll ich sagen, das Lachen aus dem Wartezimmer mag aus dem ruhigen, heilsamen Wissen meiner größeren Seele gespeist gewesen sein, es gibt keinen Grund zur Panik. Du bist nicht dein Körper, du hast einen Körper. Du bist so viel mehr. 

Und alles ist gut.

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Miriam Licht
Miriam Licht

8 Kommentare

  1. Hab von Herzen Dank fürs Teilen dieser zauberhaften Geschichte, liebe Miriam.
    Ein herzlichtes Adventswunder, das du so innig empfunden in Worte gegossen hast, ich bin ganz und gar eingetaucht beim Lesen. Danke für dieses wärmende Morgenlicht, mit dem ich nun meinen Tag beginne. Alles Liebe für dich, von Herzen, Catrina

    • Herzgrüße zu dir, liebe Catrina – dank dir für deine liebe Wortschöpfung des „herzlichten Adventswunders“! Worte können so eine Beglückung sein. Und der heilsame Raum von Erzählen, Teilen, Begnung. Alles Liebe

  2. Liebe Miriam,
    dank deiner wundervollen Beschreibung war ich auch in diesem Wartezimmer. Und werde bei jedem noch kommenden Arztbesuch an deine mutmachenden Worte denken. Danke dafür.

    • Oh ja, Mut brauchen wir in unserem Mensch Sein. Immer wieder aufs Neue. Und in allem die Gewissheit, dass wir mehr sind als unser so kostbarer Körper. Frohes Sein dir, liebe Astrid!

  3. Liebe Mimi,
    Welch schöne Geschichte, die das schöne im Leben, die manchmal unscheinbaren Momente die in ihrem Kommen und Gehen von so großem Wert sind, auf so verbindende Art spürbar macht. Dein Text hat mich zum Lächeln gebracht und so sitze ich hier im entfernten Holland und freue mich über diesen schönen Text an einem grauen Wintertag.
    Liebe Grüße!

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