Buchtipp: Der Fließweg

Von Giesela Minz. Schon der Titel von „Der Fließweg“ fasziniert mich. Von klein auf habe ich begeistert das Wasser in Bächen, Flüssen und Strömen beobachtet, wie es sich auf verschiedene Weise seinen Weg durch die Landschaft bahnt. Heute begreife ich, dass dieses Betrachten auch ein Blick auf die spannenden, sich stets verändernden Ereignisse in meinem Leben sein kann. Die Lektüre des Buches wird meine eigenen Beobachtungen vertiefen und erweitern. Da bin ich mir sicher.
Es ist eine besondere Ausgabe, in Leinen gebunden, mit Lesebändchen versehen, geprägtem Titel in Blau und dem schwarzen chinesischen Dào-Zeichen, das Weg oder Pfad bedeutet. Ausdruck dafür, dass da etwas im Entstehen, in Bewegung, im Fließen ist. Gleich im Vorwort eine Überraschung, der Schweizer Musiker Balts Nill hat das Daodejing ins Berndeutsche übersetzt. Im Lesen offenbarte sich Bruder David in eben dieser Übersetzung ein verborgener Schatz. Später haben beide dann zusammen in langen Gesprächen das Buch aus dem Berndeutsch ins Hochdeutsche übertragen.
Bruder David erzählt in der so entstandenen Ausgabe von der Kraft der Sprache, der Tiefe der Einsichten und von seinem Schauder, seinem Erschrecken, vor dem Übergroßen. Verfasst hat er auch erklärende Zusatztexte zu 81 Abschnitten sowie einen ergänzenden Anhang. Er beschreibt diese Kommentare als Echo seiner eigenen jüdisch-christlichen Spiritualität wie auch aus seiner tiefsten, angeborenen Religiosität. Menschliche Ur-Religiosität gleicht für ihn einer unterirdischen Wasserader, die jede Religion mit ihrem eigenen Brunnen anzapft. Und so wünscht er jedem Leser und jeder Leserin einen erfrischenden Trunk daraus und einen Widerschein jener freudigen Überraschung, die er bei der Entdeckung dieser Schatztruhe erlebte.
Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ stellen die beiden Autoren ihrer Übersetzung voran. Und ermutigen so zum eigenen Entdecken der Weisheiten des Laozi.
Weil es der 20. Januar 2025 ist, beginne ich mit Abschnitt 20. Mal reinlesen, denke ich nach dem Lesen des Vorworts und der Legende. Dann kann ich am kommenden Tag mit der Lektüre der einzelnen Abschnitte beginnen. Doch das geht gar nicht! Die Gedanken des Laozi sind derart dicht, dass einmaliges Lesen selbst für wenige Zeilen nicht genügt. Dieser Text verlangt volle Konzentration. Es ist schon Abend. Am andern Morgen lese ich weiter. Lese die Zeilen immer wieder, bin hellwach und gelange in die Tiefe eines Brunnens, den ich so noch nicht kannte.
Es geht um Tiefe der Einsichten und Klarheit der Bilder. Bald merke ich, es geht um mich selbst. Ich lese Sätze, die ich zunächst nicht verstehe. Folge den Gedankengängen von Br. David und bin in einer weiteren Dimension des eigenen Erlebens. Hinter jedem Satz verbirgt sich eine neue Welt.
Abschnitt 20 bietet wegweisende Fußnoten. Ein Sternchen* weist auf Psalm 131,2 und den Evangelisten Matthäus 11,25 hin. Mit einem Doppelsternchen** zitiert Br. David den „Isegrim“ des Joseph Freiherrn von Eichendorff (1788-1857). So nimmt er mich an die Hand und führt mich durch den Text des Laozi, hin zu den Fragen: Wann bin ich bei mir selbst? Wie finde ich meinen Platz in der Welt? Wie finde ich wahren Herzensfrieden?
Es gibt reiche Hinweise. Ich kann vergleichen und abwägen. Bibel, Daodejing und weitere Literatur sprechen von Vertrauen, Einfachheit und Geborgenheit. In allem lassen Laozi und auch Br. David die Wahl.
Das Lesebändchen liegt blau geschwungen auf den weißen Seiten meiner Lektüre. Es ist so, als ob sich meine eigenen Gedanken zwischen den Zeilen hin und her bewegen. Ich lese noch einmal Abschnitt 20, stelle fest, dass er fließend in Abschnitt 21 übergeht: „Das unbändig Lebendige sucht immer einen Weg, sucht ihn im Nebel im Dunkel“. Das passt zu meinen realen Erfahrungen. Vorgestern habe ich den Rhein nur im dichten Nebel und in der Dunkelheit durch den Wellenschlag der Schiffe am Ufer wahrnehmen können. Lebensgestaltung und philosophische Einsicht gehen Hand in Hand.
Br. David greift den Begriff ‚unbändige Lebendigkeit‘ auf. Sie „ist in allem, was lebt, auch in dir und in mir. Selbst wenn die Spur kaum noch zu sehen ist, drängt unser Innerstes, ihr nachzugehen.“ Und so folgt fast wie eine Zusammenfassung Abschnitt 22, der beginnt: „Was zusammengehört, findet sich, was krumm ist wird gerade“ … und endet … „was lebt geht aufs Ganze.“ An der Stelle fragt Br. David: „Aber gehört nicht alles mit allem zusammen?“
So fließen in der Lektüre von „Der Fließweg“ die Gedanken des Laozi, Br. Davids Hinweise und die Übersetzung von Balts Nill mit meinen eigenen und den Gedanken aller Leser und Leserinnen zusammen. Für für solch weltweites Beziehungsnetzwerk, auch bei der Herstellung des Buches, bedanken sich die Autoren.
Br. Davids Begeisterung ist ansteckend! Ich erhalte einen „erfrischenden Trunk“ und Überraschungen aus der Schatztruhe großer spiritueller Denker. Meine Neugier ist geweckt. Ich werde die übrigen Abschnitte für mich entdecken.
Dafür bin ich sehr dankbar!
„Dankbares Leben ist ein Weg zum Heilwerden der Welt.“ David Steindl-Rast OSB