Der alte Apfel am blühenden Zweig
An meiner Seite das kleine Mädchen. Ihre vom Eis noch klebrige Hand schiebt sich in meine. Ein Moment des Glücks erfüllt mein Herz. Sie hüpft über den holprigen Feldweg. Links der lichte Wald, rechts die Streuobstwiese mit den Apfelbäumen. Ich bin etwas aus der Puste, das passiert in letzter Zeit öfter. Einen Moment muss ich stehen bleiben. Leichter Schwindel erfasst mich. Direkt vor mir steht der Baum, den ich vor vielen Jahrzehnten gepflanzt habe. Völlig vergessen hatte ich ihn. War ewig nicht hier. Er sieht etwas zerzaust aus, blüht schwach.
Da sehe ich es. Ein Apfel vom Vorjahr hängt an einem blühenden Zweig. Ungewöhnlich. Er ist nicht abgefallen, nicht geerntet worden. Hängt einfach da und scheint eine Botschaft für mich zu haben. Ach was, ich werde wohl langsam wunderlich. Ein Apfel mit einer Botschaft!? Unsinn.
„Wieso hängt die Haut an deinen Oberarmen so runter?“ Die Frage des kleinen Mädchens katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Sprachlos starre ich sie an.
Und mir fällt wieder ein, wie es damals war.
Die Kellertreppe hinunter. Das Geländer aus Metall unangenehm kalt an der Hand. Farbe auf den Treppenstufen blättert. Kellergeruch steigt in meine Nase. Meine Großmutter, etwas atemlos, geht entschlossen auf eine der Türen zu. Öffnet sie und der Duft ändert sich. Äpfel! Da liegen sie. Säuberlich nebeneinander auf einem Holzregal. Ich schnuppere den süßen, frischen Duft. Atme ihn ein. Kann ihn schmecken.
Vor ein paar Wochen haben wir geerntet. Der Apfelbaum steht hinter dem Haus. Die Äpfel liegen da und duften. „Erinnerst du dich, wie sich die Äpfel am Erntetag angefühlt haben? Die Schale war fest und etwas klebrig. Gerochen haben sie fast gar nicht. Aber lecker, sehr saftig und knackig.“ Ich blicke auf die Äpfel, die schon eine Weile hier liegen. Die Schale ist weicher, weniger prall. Aber der Duft ist wunderbar, ich bade darin.
Großmutter teilt einen Apfel quer. Das Kerngehäuse erscheint. Wie ein Stern angeordnet fünf Mandorlas, in jede eingebettet ein oder zwei braune Kerne. Sicher und geschützt, drum herum das saftige Fruchtfleisch und die äußere Schale. Ich weiß, dass ein ganz neuer Baum durch diese Samen entstehen kann. Der Apfel fällt runter und keimt in der Nähe, wird aber auch oft von Tieren weitergetragen. Dann wächst an einem weit entfernten Ort ein neuer Baum. Ich bin schon 9 Jahre, da weiß man solche Sachen.
“Wie alt werden so Apfelbäume eigentlich?“ will ich wissen. „Wenn du sie gut pflegst, an die 80 Jahre.“ Das ist so alt wie Großmutter, denke ich. „Und wie alt wird ein Apfel?“ Großmutter lächelt. „Hier ist ein alter Apfel vom Vorjahr. Ich habe ihn für dich aufbewahrt.“ Sie hält mir einen kleinen hutzeligen Apfel hin. Die Schale ist weich, tiefe Runzeln und Furchen sind zu sehen. Großmutter teilt ihn quer und ich sehe auch hier die sternförmig angeordneten Mandorlas, die die braunen Kerne schützen. Die Großmutter gibt mir ein Stück zu kosten. Mehlig und weich, aber sehr süß und aromatisch.
Ich betrachte nachdenklich die Kerne, sie sind als einzige unverändert geblieben, ja sie haben sogar an Farbe gewonnen, wirken kräftiger. „Möchtest Du einen eigenen Apfelbaum ziehen?“ Ich nicke, betrachte die kleinen Samen vor mir. „Wir wickeln sie in ein feuchtes Tuch und legen sie auf die kühle Fensterbank. Du kannst dann von Zeit zu Zeit nachsehen, ob sie gekeimt haben. Wenn es soweit ist, gibst du sie in ein Töpfchen mit Erde und wenn es ein kleines Bäumchen geworden ist, dann pflanzt du es aus.“ „Aber du hilfst mir doch dabei?!“ „Liebes Kind, das Keimen dauert eine Weile und ich bin alt und verlasse bald die Erde. Aber du wirst es gut machen, das weiß ich.“
In meinem Herzen verspüre ich einen Stich. Wieso habe ich sie bloß letztes Jahr auf ihre Falten an den Oberarmen angesprochen! Danach wurde sie auf einmal ganz still und war ein paar Tage ganz nachdenklich. Meine Sorge, dass ich sie gekränkt hatte, war groß. Als ich mich bei ihr entschuldigen wollte, sagte sie mir, dass sie nur über etwas nachdenken müsse.
Jetzt weiß ich genau, was sie damals meinte.
Das kleine Mädchen an meiner Hand blickt besorgt zu mir. „Geht es dir nicht so gut, du siehst ganz blass aus?“ fragt es. „Nein, liebste Kleine, es ist alles gut. Ich bringe dich jetzt nach Hause und in ein paar Tagen sehen wir uns wieder. Und im Spätsommer kommen wir wieder und ernten die Äpfel von diesem Baum.“ Die Kleine tanzt hin und her und klatscht in die Hände. Ich betrachte ihre pralle Pfirsichhaut. Das Leben wird weitergehen.
Ein Lächeln steigt tief aus meinem warmen Herz auf und breitet sich über mein ganzes Antlitz aus. „Du siehst ja so schön aus“, ruft das Mädchen.
Stimmt.
Brigitte Schäfers-Lutat lebt in Dortmund. Als Naturkosmetikerin und Autorin setzt sie sich für die liebevolle Annahme des individuellen Gesichts und Alters ein. Ende Mai 2025 lädt sie ein zum dreiteiligen Workshop „Entdeckungsreise zum eigenen Antlitz“. Mehr unter www.torzurschönheit.de
Beglückt, beseelt dank ich dir, liebe Brigitte – Wärme breitet sich in mir aus im Genießen solcher Schönheit deines Erzählens. Dank dir für dieses Wunderwerk!
Das ist das wirklich wichtige Leben. So schön erzählt. Herzlichen Dank.
Liebe Brigitte, danke für soviel lebendige Weisheit und Schönheit von Äpfeln, Kindern und Großmüttern. Das bewegt mein Herz…
Ihr lieben Alle,
danke für eure herzenswarmen Worte und Euer Verstehen.
Glück auf!